Sind Quereinsteiger in IT-Berufen ein Auslaufmodell?

25. März 2021 um 10:17
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Die Qualifikationsansprüche steigen, zugleich droht der Fachkräftemangel. Schweizer ICT-Verbände mit ihrer Einschätzung und was sie für Abhilfen sehen.

Computer-Bastler ohne Studium, die aus dem Hobby-Keller eine Weltkarriere starteten. Technologie-Interessierte, die ohne entsprechende Ausbildung den Weg in IT-Berufe fanden. Viele solche Quereinsteiger, die in den 1980er- und noch 1990er-Jahren Fuss fassten, erreichen das Pensionsalter. Welche Chancen und Möglichkeiten haben Quereinsteiger heute? Gibt es sie überhaupt noch?
2015 stellte der deutsche IT-Verband Bitkom fest: "Quereinsteiger haben in der IT nur noch geringe Chancen – 2020 werden drei von vier IT-Experten eine fachspezifische Ausbildung haben." Für das vergangene Jahr wurde damals ein Anteil der Quereinsteiger in IT-Berufen von 11% prognostiziert, während er 2015 noch rund 25% betrug.
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Arbeitsmarktstatus in der ICT 2019. Grafik: ICT-Berufsbildung
Wie ist die Situation in der Schweiz? Ist hier eine ähnliche Entwicklung zu sehen? Die Studie "ICT Fachkräftesituation: Bedarfsprognose 2028" von ICT-Berufsbildung stellte für das Jahr 2019 fest, dass unter den gesamten Schweizer ICT-Beschäftigten die Quereinsteigenden gegenüber den ICT-Fachkräften noch leicht in der Mehrheit waren. Die Studie "Arbeitsmarktfähigkeit von ICT-Beschäftigten" der Gewerkschaft Syndicom wiederum kam 2020 zur Einschätzung, dass der Anteil der Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger im Zeitverlauf auch in der Schweiz abnimmt.

Profil der Quereinsteiger hat sich verändert

Reto Bättig, CEO M&F Engineering und Mitglied der SwissICT-Fachgruppe "ICT 50+", erklärt: "Früher wurden die Quereinsteiger intern in den Firmen rekrutiert und mit attraktiven Angeboten in die ICT-Welt 'gelockt'. Heute ist es eher so, dass die Quereinsteiger sich zuerst autodidaktisch und aus eigenem Interesse immer mehr in die Themen einarbeiten und dann den Wunsch verspüren, das Hobby zum Beruf zu machen." Insofern würden die Quereinsteiger heute sicher anders aussehen vom Profil und von der Motivation her als früher.
Bättig will die Quereinsteiger aber keinesfalls als "Auslaufmodell" bezeichnen. "Im Gegenteil kommen heute immer mehr junge Leute schon in der Schulzeit mit der IT-Welt in Berührung und der Einstieg wird eher erleichtert, auch wenn der erste Berufsbildungsweg vielleicht noch in eine andere Richtung geht."
Auch Miriam Berger, Zentralsekretärin Sektor ICT bei Syndicom, will nicht von einem Auslaufmodell sprechen. "Wenn die verschiedenen Altersklassen der Beschäftigten berücksichtigt werden, zeigt sich, dass ältere Beschäftigte mit IT-Beruf mit 70% eher quer eingestiegen sind als jüngere Personen, bei denen der Anteil ohne höchste Ausbildung im IT-Bereich bei 52% liegt." Es seien auch viele Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen worden, die vor 20 oder 30 Jahren noch nicht vorhanden waren.
Diesen Umstand betont auch Christian Hunziker, Geschäftsführer SwissICT: "Früher gab es gar keinen anderen Weg als den der Quereinsteigerin, denn das Informatikstudium wurde erst vor gut 30 Jahren eingeführt und auch die Berufslehre der Informatikerin ist noch gar nicht so alt."
Umschulungs- und zusätzliche Ausbildungsmöglichkeiten sollten aber gerade jüngeren Leuten nach wie vor eine Tür zur IT-Berufswelt öffnen können, heisst es von Seiten ICT-Berufsbildung. Diese könnten sich ihre Kompetenzen entweder über eine Berufsprüfung (Tertiärstufe) unabhängig eidgenössisch zertifizieren lassen oder kantonal über das Validierungsverfahren anerkennen lassen (Stufe EFZ / Grundbildung). ICT-Berufsbildung entwickle zusammen mit dem Kaufmännischen Verband zudem eine eidgenössische Berufsprüfung (Fachausweis), die sich im Bereich "Digital Office" an Quereinsteigende mit kaufmännischem oder betriebswirtschaftlichem Hintergrund richtet.

Die Hürde wird im Alter grösser

Doch wie ist die Situation bei den Ü40 und Ü50, die einen Umstieg versuchen möchten? "Feststellbar ist sicher, dass Mitarbeitende egal welcher Altersstufe ohne spezifische Aus- und Weiterbildung einen schwereren Stand haben", so Miriam Berger. Für Christian Hunziker "kommt es sicher darauf an, was sie sonst schon für Ausbildungen und Know-how mitbringen". Grundsätzlich sei aber die Bildungslandschaft in der Schweiz sehr durchgängig und ermögliche es Quereinsteigern aus allen Richtungen, sich gezielt weiterzubilden. "Sei dies über Bootcamps, Nachdiplomstudiengänge oder auch produktspezifischen Weiterbildungen und Zertifizierungen von grossen IT-Firmen."
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Höchste abgeschlossene Berufsbildung der ICT-Leute 2010-2017. Grafik: Syndicom
Bei SwissICT verweist man auf das zusammen mit der Schweizer Informatikgesellschaft SI gegründete Unternehmen 3L Informatik. Dieses unterstütze genau solche Lebensläufe und helfe, die notwendige Berufsplanung und Weiterbildungen zu bestimmen. "Durch das Zertifikat erhalten auch Personen mit diesem Bildungsweg eine Anerkennung als 'richtige Informatikerinnen und Informatiker'."
Serge Frech, Geschäftsführer ICT-Berufsbildung, erklärt zu den Ü40 und Ü50: " Da ist die Situation ziemlich schwierig." Die Eintrittsschwelle in eine Aus- oder Weiterbildung sei hoch. "Es werden viele Vorkenntnisse entweder fachlicher oder schulischer Natur verlangt. Die grösste Hemmschwelle bildet aber ein gewisser Lebensstandard, auf den man während einer Umschulung verzichten muss. Sei dies der Verzicht auf Einkommen oder Freizeit." Ein technisches oder naturwissenschaftliches Studium könne aber eine sehr gute Grundvoraussetzung beispielsweise für einen erfolgreichen Softwareentwickler sein, meint Bättig.

Haben Arbeitgeber zu hohe Ansprüche?

Doch nicht nur die Eintrittsschwelle zu Weiterbildung kann hoch sein. Kürzlich kam eine Studie zum Personalbedarf in Data Center zum Schluss, bei Stellenausschreibungen würden auch Ansprüche und Qualifikationsanforderungen oft zu hoch angesetzt. "Die Anforderungen legen die Arbeitgebenden fest. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass diese aufgrund der zunehmenden Akademisierung tendenziell zu hoch und zu akademisch-lastig sind", erklärt Frech. Vielen HR-Fachleuten, mittleren und höheren Kadern würde auch schlicht das Wissen fehlen, "zu was Fachkräfte, die aus der Beruflichen Grundbildung und Höheren Berufsbildung kommen, fähig sind".
"Angesichts des steten Fachkräftemangels in der ICT wäre es gut, wenn die Branche für alle besser zugänglich wäre. Das wäre auch gut für die Durchmischung der Gesellschaft und die soziale Durchlässigkeit", antwortet Syndicom-Zentralsekretärin Berger. Wenn die Unternehmen gewisse Qualitätsansprüche und Bedürfnisse an spezifischem Wissen und Skills hätten, so seien diese gefordert, sich für die Erwerbung solcher Fähigkeiten und Fertigkeit einzusetzen und in Aus- und Weiterbildung zu investieren.
"Ich habe schon viele Stellenausschreibungen mit sehr hohen Hürden gesehen – da wundere ich mich oft nicht, wenn sich niemand bewirbt und der Ausschreibende dann von einem Fachkräftemangel spricht", erklärt auch Bättig.

Es braucht zusätzliche Möglichkeiten

Einig sind sich alle Befragten, dass gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels auch möglichen Quereinsteigern ein besonderes Augenmerk gelten müsse. "Wir brauchen zusätzliche ICT-Fachkräfte, um die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz mittel- und langfristig sichern zu können. Das bedingt Lehrlingsplätze und auch die Förderung von Quereinsteigern sowie das Bekenntnis zum lebenslangen Lernen", sagt Christian Hunziker für SwissICT.
"Es braucht unbedingt weitere Umschulungsmodelle. Die Branche muss besonders auch für Frauen und für Menschen mit Migrationshintergrund attraktiver gestaltet und für alle zugänglich gemacht werden", fordert Syndicom. Grundsätzlich gebe es bereits viele Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, erklärt dagegen Hunziker. "Wir glauben nicht, dass es daran fehlt. Es braucht aber eine Anerkennung der verschiedenen Wege, um als ICT-Fachperson anerkannt zu werden." SwissICT würde sich in allen erwähnten Aspekten engagieren, insbesondere mit 3L Informatik und der neuen Initiative "SwissICT Booster 50+".
Neue Umschulungsmodelle könnten sicher Teil der Lösung sein, neben der Schaffung von mehr Lehrstellen, heisst es bei ICT-Berufsbildung. Man arbeite an entsprechenden Konzepten. Es gehe aber eher darum, "wie man Hürden abbauen und die Unternehmen motivieren könne, sich für Quereinsteigende einzusetzen, diese einzustellen für Praktika und zu betreuen". Bildungsprogramme zu erarbeiten sei nicht das Problem. "Quereinsteigende zu befähigen, ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Ein Marathon, kein Sprint. Langfristig, wie jedes Engagement zu Gunsten des Fachkräftebedarfs, zahlt es sich sicherlich aus", schliesst Geschäftsführer Serge Frech.

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