Die Schweiz zählte letztes Jahr rund 5,5 Millionen Stimmberechtigte. Diese stimmten an 4 Urnengängen über 13 Vorlagen ab – allein auf nationaler Ebene. Ein logistischer Kraftakt. E-Voting könnte den Aufwand etwas verringern und im Ausland lebenden oder beeinträchtigten Wahlberechtigten Möglichkeiten eröffnen. Bloss: Bis im Juni stehen die Systeme noch still, zu gross waren die Bedenken, zu gross die Angst vor Manipulation und Vertrauensverlust in den demokratischen Prozess. Damit befindet sich die Schweiz in guter Gesellschaft.
Diese Chronologie zeigt, wie es nach hoffnungsvollem Anfang so weit kam.
Apple bringt den ersten iMac auf den Markt und etabliert sich mit der Innovation auf dem Markt für Konsumentengeräte. Kaum weniger innovativ zeigt sich die Regierung des CVP-Politikers Flavio Cotti, der in diesem Jahr als Bundespräsident bestätigt wird. In der ersten "Strategie für eine Informationsgesellschaft" der Schweiz hält sie fest: Alle Einwohnerinnen und Einwohner des Landes sollen Zugang zu Informationstechnologie erhalten – auch E-Voting wird dort thematisiert. Eine Koordinationsgruppe soll die Beschlüsse innert zwei Jahren in die Wege leiten.
Die Bundeskanzlei prüft im Projekt "Vote électronique" die Machbarkeit der elektronischen Stimmabgabe. Der Befund: Es braucht praktische Versuche auf den digitalen Kanälen. Diese sollen mit den Pilotkantonen Genf, Neuenburg und Zürich durchgeführt werden. Rechtliche Grundlagen dafür werden erarbeitet und 2002 verabschiedet.
Die knapp 1 Million wahlberechtigten Menschen in Estland können über das Internet ihre Stimme abgeben, sowohl kommunal als auch national oder für das EU-Parlament. Das System basiert auf der E-ID des Landes, es soll laut den Verantwortlichen die Wahlbeteiligung verbessert haben. Bis zu einem Viertel der Wählenden nutzen den digitalen Kanal, das gilt als grosse Erfolgsgeschichte. Diverse Experten monieren aber, die Sicherheit sei ungenügend.
2014 zeigt ein internationales Team, dass man das System unerkannt manipulieren kann. Estland sieht keinen Handlungsbedarf.
Die Kantone Aargau, Freiburg, Graubünden, Schaffhausen, St. Gallen, Solothurn und Thurgau gründen das "Consortium Vote électronique". Im Jahr darauf führen die Kantone mit ihrem System Versuche durch. Nach sechs Jahren löst sich das Konsortium 2015 wieder auf, nachdem der Bundesrat das System des Konsortiums nicht für die eidgenössischen Parlamentswahlen im Herbst zugelassen hat. Ihr System wird eingestampft, damit bleibt nur noch Genf im Rennen.
Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass die elektronische Stimmabgabe der Verfassung widerspricht, da eine zuverlässige Kontrolle nicht möglich sei. Es reagiert auf Klagen zweier Bürger, die nach einer Testphase von 1998 bis 2005 den Betrieb von elektronischen Wahlmaschinen in Wahllokalen angefochten hatten – damit sind auch Online-Versuche unterbunden.
Erstmals kommt das E-Voting-System der Post in der Schweiz zum Einsatz. Freiburg nutzt das System. Im Jahr darauf wird es für 50% der kantonalen Stimmbevölkerung zertifiziert.
Nachdem das Land schon mehrere Wahldurchgänge teilweise mit elektronischen Kanälen ergänzt und E-Voting Auslandsfranzosen angeboten hatte, wird das Projekt gestoppt – aus Gründen der Cybersecurity. Ab 2020 dürfen die französischen Bürgerinnen und Bürger im Ausland aber für Wahlen des Parlaments oder konsularische Vertretung den Internetkanal nutzen, für Entscheide über Präsidentschaft, EU-Parlament oder Referenden bleibt der Weg verschlossen.
Der Bundesrat fällt den Grundsatzentscheid, dass E-Voting für alle Stimmbürgerinnen und Stimmbürger eingeführt werden soll. Festgelegt wird: Die technische Plattform muss quelloffen sein. Im Jahr darauf eröffnet die Regierung eine Vernehmlassung, um den elektronischen Stimmkanal in den ordentlichen Betrieb zu überführen. Er schlägt dafür eine Revision des Bundesgesetzes über politische Rechte vor: Die Rückmeldungen sind grossteils positiv, die Parteien sehen die Zeit aber noch nicht reif für einen ordentlichen Einsatz von E-Voting. Kategorisch "Nein" sagt einzig die SVP: E-Voting sei teuer, unsicher und gefährde die Demokratie.
2019 Das Schicksalsjahr für das Schweizer E-Voting
Im März startet ein Initiativkomitee eine Unterschriftensammlung für ein Moratorium in Sachen E-Voting. Die Initianten wollen die elektronische Stimmabgabe für mindestens 5 Jahre stoppen. Das überparteiliche Komitee kriegt die Stimmen aber
nicht in der notwendigen Frist zusammen.
Die politischen Vorbehalte werden dann aber von der digitalen Realität gedeckt.
Das Genfer System wird im Juni abgeschaltet. Es war mehrfach in die Schlagzeilen geraten, weil es manipuliert werden konnte. Offizieller Grund des Stadtkantons: zu hohe Kosten.
Die Post veröffentlicht den Quellcode ihres universell verifizierbaren Systems
(Glossar) und lässt Intrusionstests durchführen. Dabei werden
mehrere gravierende Lücken entdeckt, eine betrifft die individuelle Verifizierbarkeit und damit das bislang eingesetzte System. Dieses wird im Juli endgültig abgeschaltet. Die Bundeskanzlei beteuert: "Es liegen keine Hinweise vor, dass dieser Mangel bei bisherigen Abstimmungen zur Verfälschung von Stimmen geführt hat." Das neue System der Post bleibt ebenfalls offline. Damit gibt es in der Schweiz kein einsetzbares E-Voting-System mehr.
Im selben Jahr lässt der Bundesrat eine Neuausrichtung des Versuchsbetriebs konzipieren. Das Ziel nach den ernüchternden Erfahrungen: Bessere Kontrolle und Aufsicht, grössere Transparenz und mehr Vertrauen, stärkere Vernetzung mit der Wissenschaft. Nach einem Dialog mit Wissenschaft, Informatik und Wirtschaft wird
2020 ein Bericht (PDF) veröffentlicht.
Im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahlen flutet eine Desinformationskampagne über das Land hinweg. Tausende User oder Bots auf Social-Media teilen die Meldung, dass die elektronischen Wahlgeräte von Dominion zur Validierung der Ergebnisse des ersten Wahlgangs verwendet würden. Frankreich setzt die Geräte nicht ein, der kanadische Hersteller war aber von Donald Trump und seinen Anhängern in einer grossangelegten politischen Kampagne beschuldigt worden, den ausgedachten Wahlbetrug von 2019 ermöglicht zu haben. Die Kampagne bezieht sich nicht auf E-Voting, verstärkt aber das Unbehagen gegenüber dem elektronischen Kanal.
Neue Rechtsgrundlagen treten am 1. Juli in Kraft. In der "teilrevidierten Verordnung über die politischen Rechte" wird festgehalten: Nur vollständig verifizierbare Systeme, die von unabhängigen Expertinnen und Experten im Auftrag des Bundes geprüft wurden, werden zugelassen. Zudem müssen sie hohe Anforderungen an Transparenz erfüllen und ständig in einem Bug-Bounty-Programm und von Experten unter die Lupe genommen werden.
Dennoch wird der digitale Kanal erstmal für maximal 30% der kantonalen und 10% der Schweizer Stimmbevölkerung zugelassen – nicht mitgezählt werden Menschen mit Beeinträchtigung und Schweizerinnen und Schweizer im Ausland. Es ist die Konsequenz aus über 300 Versuchen von 15 Kantonen, mehreren kritischen Lücken in produktiven Systemen und – möglicherweise – der Wahlanfechtung in der mächtigsten Demokratie der Welt.
Ein
externer Prüfbericht hatte im Frühling 2022 zwar Verbesserungen gezeigt, es waren aber immer noch Mängel zu beanstanden. Im Herbst meldete die Post einen Zwischenstand: Nach 60'000 Angriffen sei keine kritische Lücke mehr entdeckt worden. Die Kantone Basel-Stadt, St. Gallen und Thurgau erhalten
Anfang März eine Grundbewilligung für den Einsatz des neuen Postsystems während der Abstimmung am 18. Juni.