Bei Breitband-Anschlüssen ist öfters nicht das drin, was draufsteht. Fredy Künzler über das Phänomen Overbooking.
Vor einiger Zeit war ich auf einem Lufthansa-Flug von Frankfurt nach Malta gebucht. Beim Check-In bekam ich eine Boardkarte ohne Sitzplatznummer, man beschied mir, ich solle mich am Abfluggate melden. Kaum dort angekommen, hörte ich die Ankündigung: "Verehrte Fluggäste, Ihr Flug nach Malta ist mit mehr als 20 Passagieren überbucht, wir suchen Freiwillige, die wir via Paris umbuchen dürfen. Ankunft in Malta abends statt um 14 Uhr, wir bieten eine Bar-Entschädigung von 400 Euro." Dank meiner Statuskarte von "Miles & More" erhielt ich schliesslich den Sitzplatz 1A auf dem Direktflug...
Kommerzielle Luftfahrt und kommerzielles Internet haben einige Analogien. Die einen transportieren PAX, die anderen Packets. Beide Industrien kämpfen mit enormem Wachstum; ruinöser Wettbewerb verursacht Margenzerfall; Ressourcen sind zwar verfügbar, aber öfters am falschen Ort: knappe Abflug-Slots respektive ausgebuchte Rechenzentren an den meistfrequentierten Plätzen wie London Heathrow respektive London Telehouse North. Auch gibt es in beiden Industrien nur wenige Hersteller des notwendigen Equipments: Airbus, Boeing, Embraer respektive Brocade, Cisco, Juniper (in alphabetischer Reihenfolge).
Sie fragen sich sicher, weshalb ich das Airline-Beispiel bemühe: richtig geraten, es geht um Overbooking. In den USA gibt es wohl mehr überbuchte Domestic-Flüge als andere. Man fliegt dort, allein wegen der geografischen Grösse, wie man bei uns Zug fährt. Populäre Strecken haben teilweise fast ein Takt-Flugplan, und darum warten wir halt auf den nächsten Flug in einer Stunde.
Overbooking ist auch bei Internet-Providern üblich und in gewissem Mass auch legitim, denn kein Endkunde nutzt seine Bandbreite 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche zu 100 Prozent voll aus. Die effektive Nutzung beträgt lediglich 1 bis 2 Prozent der nominalen Bandbreite - über einen Monat verteilt.
Nehmen wir also an, der Beispiel-Provider hätte 1000 Kunden mit einem 20Mbps-DSL-Abo, dann wären das nominal 20 Gigabit aggregierte Bandbreite, effektiv genutzt werden jedoch bloss 200 bis 400Mbps. Der nominale Überbuchungsfaktor beträgt also 1:50 bis 1:100; stellt der Provider 1Gbps Kapazität für seine 1000 Kunden bereit, dürften diese mutmasslich zufrieden sein, es sind ja nie alle gleichzeitig online.
Bei manchen Anbietern geniesst Kundenzufriedenheit nicht immer die höchste Priorität, und so kommt es öfters vor, dass die 1-Gigabit-Leitung auf mehr Kunden aufgeteilt wird. Das mag eine Weile lang gut gehen, doch bei 3000 oder 5000 Kunden wird es unangenehm spürbar: Das Internet lahmt. Subjektiv zwar, und schleichend, betroffen sind nicht alle Websites, aber Youtube-Filme stocken doch öfters als nicht und bei Zattoo funktioniert eigentlich bloss noch Frühstücksfernsehen ohne Rebuffering - für den Tatort am Sonntagabend zur Prime-Time muss der analoge Röhren-TV aus dem Keller wieder ran, weil der Internet-Anschluss dicht ist.
Das ist etwa so, als würde der Grossverteiler eine Packung Mehl à 1Kg verkaufen, die beim nachwägen bloss 500 Gramm wiegt. Der Aufschrei der Konsumentenschützer wäre riesig und der 'Kassensturz' hätte bereits ein Filmteam losgeschickt...
Dummerweise kann man Breitbandanschlüsse nicht so einfach "nachwägen". Die Beweispflicht des unzulänglichen Durchsatzes liegt ja beim Kunden - und genau hier hinkt der Airline-Vergleich. Während Lufthansa freimütig die Überbuchung zugab und jedem, der nicht mit konnte, 400 Euro Entschädigung anbot, vertuschen Internet-Anbieter die harten Fakten meistens. Der Überbuchungsfaktor ist vermutlich eines der bestgehüteten Betriebsgeheimnisse, wenn er überhaupt errechnet wurde.
Eigentlich müssten sich Konsumentenorganisationen gegen schlechte Breitbandperformance wehren, es ist nämlich keineswegs so, dass die hiesigen Breitbandanbieter sich mit Ruhm bekleckern würden, was den Speed in der Primetime (18 - 23 Uhr) betrifft. Doch bedauerlicherweise haben
Internet-Enduser keine Lobby.
Um nochmal zur Airline-Analogie zurückzukommen: Ideal wäre aus Sicht des Breitband-Endkunden eine "goldene Statuskarte", welche bei der Airport-Security den Zugang zur Fast-Lane erlaubt. Technisch ist diese Fast-Lane problemlos möglich, mittels QoS (Quality of Service) lässt sich gewisser "Gold-Status"-Traffic durchaus priorisieren. Eine solche
Verletzung der Netzneutralität wäre aber fatal und muss mit allen Mitteln bekämpft werden.
Der eine oder andere wird sich überlegen, das teurere Abo mit 50 oder 100 Mbps zu kaufen, damit "das Internet" tifiger wird, und sich sozusagen ein Business-Class-Ticket erstehen. Doch das ist der falsche Ansatz: wenn Youtube in der niedrigen Auflösung nicht richtig läuft, dann flutscht es in HD noch weniger. Ein HD-Videostream verbraucht bloss etwa 4Mbps und müsste im Standard-Abo eigentlich problemlos Platz haben.
Wenn Youtube also stottert, dann ist in fast jedem Fall der lokale Provider schuld. Und nicht etwa Google. Das gilt auch für andere Content-Provider. In den USA, wo der Video-on-Demand-Anbieter Netflix mittlerweile für 35 Prozent des gesamten Internet-Traffics verantwortlich ist, beschäftigt das Thema auch die Gerichte. Dabei vertreten grosse Breitband-Anbieter wie Verizon keineswegs die Interessen ihrer Endkunden, vielmehr benutzen sie die riesige Zahl ihrer Abonnenten als Macht- und Druckmittel.
Als ich vor einiger Zeit den verantwortlichen Mitarbeiter eines Interkonnektionspartners von Init7 darauf aufmerksam machte, dass die Links zwischen uns und ihm voll seien und deshalb ein Upgrade vorschlug, war die ernüchternde Antwort - Zitat: "Yes I know, but I don't care."
Falls sie also glauben, dass ihr Provider 100 verkauft, aber nur 20 liefert, dann sollten sie sich wehren. Sammeln Sie Fakten, erstellen Sie eine Dokumentation, führen Sie verschiedene
Speedtests, fordern Sie einen Preisnachlass oder wechseln Sie den Anbieter mit der Begründung "lausige Performance, überbuchte Kapazität".
Overbooking hat System. Overbooking hat öfters einen politischen Hintergrund - doch davon ein andermal mehr. (Fredy Künzler)
Fredy Künzler (45) ist Gründer, CEO und Network-Architect des Business- und Wholesale-Internet-Providers Init7, Parlamentarier im grossen Gemeinderat in Winterthur und Papi eines vierjährigen "Digital Native". Seine Kolumnen für inside-it.ch und inside-channels.ch erscheinen in loser Folge. Fredy Künzler äussert seine persönliche Meinung.
Zeichnung: Ramona Stüssi