"Immerhin sitzt Lady Gaga in einem vergoldeten Rollstuhl"

14. März 2013 um 08:02
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Ein Gespräch über die Macht der Crowd, alltägliche Barrieren, vergoldete Rollstühle und triviale Technologien, die unser Leben verändern könnten.

Ein Gespräch über die Macht der Crowd, alltägliche Barrieren, vergoldete Rollstühle und triviale Technologien, die unser Leben verändern könnten.
Raul Krauthausen ist ein Aktivist. So nennt er sich auf seinem Blog. Er sitzt im Rollstuhl, weil er die Glasknochenkrankheit hat. Seine Mission ist es, Menschen mit Behinderungen eine Stimme zu geben. Der Gesellschaft zu zeigen, dass Barrieren abgebaut werden müssen – auch mit Hilfe des Internets. Wir trafen Raul Krauthausen im Rahmen der X.Days in Interlaken.
Als erstes möchte ich Ihnen gratulieren. Sie haben am Dienstag auf verschiedenen Social-Media-Kanälen bekannt gegeben, dass Sie das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen.
Danke, ich bekam am Dienstagmorgen einen Anruf vom Ministerium, als ich am Hauptbahnhof Berlin auf dem Weg hierher war. Ich fühle mich aber nicht so, als hätte ich es verdient, denn hinter meinen Projekten stecken Teams, die die Umsetzung ermöglichen. Ich bin einfach die Rampensau und stehe auf der Bühne. Dabei hatte ja mein Freund Holger die Idee mit Wheelmap, weil er genervt war, dass wir uns immer im gleichen Café trafen.
Um was geht es bei dieser Wheelmap?
Das ist eine Online-Plattform, basierend auf der OpenStreetMap, auf der Menschen nach dem Wikipedia-Prinzip mit ihrem Smartphone (iPhone oder Web-App) Orte bewerten können, ob sie rollstuhlgerecht sind oder nicht. Das Ganze funktioniert nach einem Ampelsystem: Rot bedeutet, ich komme nicht rein, gelb bedeutet, ich komme rein, aber es gibt beispielsweise keine rollstuhlgerechte Toilette, grün bedeutet, es gibt auch eine Toilette. Im Idealfall können Menschen im Rollstuhl oder auch mit Krücken oder Kinderwagen die Kernfunktionen eines Ortes nutzen.
Wheelmap funktioniert nach dem Wikipedia-Prinzip. Welche Rolle spielt die Crowd?
Das Thema Barrierefreiheit ist breit und kann bis ins kleinste Detail durchdefiniert werden. Wir haben versucht, das so zu gestalten, dass die Crowd mitmachen kann. Betroffene im Rollstuhl oder auch einfach nur Menschen, die mitwirken wollen, können auch ohne Registrierung bestimmte Dinge machen. Für detaillierte Einträge braucht es ein Login. Wir kontrollieren die Inhalte nicht, die Crowd kontrolliert sich selbst, ganz wie bei Wikipedia.
Schweizer Beiträge gibt es aber noch wenige.
Genau, es hat noch nicht so viele aus der Schweiz. Aber da ich jetzt hier unterwegs bin, benutze ich das Roaming, um Schweizer Orte einzutragen.
Hatten Sie hier in Interlaken Schwierigkeiten mit dem Rollstuhl?
Nein, zum Glück nicht, weil Interlaken nicht so gross ist. Das Hotel sorgte für ein barrierefreies Zimmer.
In einem Werbespot für den Webbrowser Google Chrome werden Sie als Wegbereiter bezeichnet.
Ja, ich mag das Wort, auf englisch sogar noch mehr. Da heisst es "Trailblazer". Ich selber sehe mich aber nicht als solcher. Ich habe das Gefühl, das zu tun, was ich als sinnvoll halte. Ich empfinde mich nicht als Wegbereiter, Held oder Bundesverdienstkreuzträger. Das sind immer andere, die das definieren. Persönlich bin ich einfach zufrieden mit dem, was ich mache.
Im gleichen Google-Spot heisst es auch: Das Web ist, was du daraus machst. Wird heute denn genug Sinnvolles mit dem Web gemacht?
Das ist eine gute Frage. Ich weiss nicht, wie die Denke in der Schweiz ist, aber in Deutschland ist es schon noch so, dass man in den Feuilletons vor allem skeptisch gegenüber dem Internet ist. Datenschutz, Privatsphäre, Leistungsschutzrecht. Da wird ein viel zu grosser Fokus auf die negativen Seiten des Internets gelegt. Ja, man kann 3D-Modelle tauschen, um daraus Waffen zu drucken, aber man kann auch 3D-Modelle tauschen, um Prothesen herzustellen oder andere schöne Dinge machen.
Ich glaube, es ist immer eine Frage der Perspektive. Man sollte das Internet als etwas neutrales betrachten, das wertfrei ist. Natürlich hat das Internet Potenzial, in beide Richtungen. Deswegen ist das Web wirklich, was du daraus machst, also was die Menschen daraus machen.
Das Internet stellt viel mehr infrage als wir denken. Alte Geschäftsmodelle geraten ins Wanken. Doch je länger man versucht, an alte Modelle festzuhalten, desto mehr Probleme wird man bei der Transformation haben.
Stichwort sinnvolles Web: Wenn man dieser Tage das Suchwort "Wheelchair" auf Twitter eingibt, bekommt man vor allem Tweets zu sehen, die eine Foto mit Lady Gaga in einem vergoldeten Rollstuhl zeigen.
Ja, man kann das positiv oder auch negativ sehen. Immerhin sitzt Lady Gaga in einem vergoldeten Rollstuhl und bringt dadurch das Thema vielleicht in den Mainstream, weil Lady Gaga ja auch bekannt ist für ihr soziales Engagement. Das ist immerhin besser, als gar keinen Rollstuhl in der Öffentlichkeit zu haben.
Eines der meist gesehenen TEDx-Videos ist eines mit Aimee Mullins; eine Frau, die keine Unterschenkel hat, die einen Vortrag darüber hält, dass sie zwölf verschiedene Prothesenpaare hat und sich so sogar ihre Körpergrösse einstellen kann.
Was halten Sie von Technologien wie die Google-Glass-Brille? Könnten am Körper tragbare Technologien Menschen mit Behinderungen das Leben erleichtern oder ist das nur Spielerei?
Solche Technologien könnten helfen, ja. Prothetik ist ja schon längst dabei, dies zu machen. Ich fahre einen elektrischen Rollstuhl, bin also fast schon eine Art Cyborg. Ich kann mein iPhone an meinem Rollstuhl aufladen, was dazu führt, dass ich inzwischen sogar Neider habe unter den Fussgängern.
Auf der anderen Seite muss man fragen, wer eigentlich genau definiert, was entwickelt wird. Werden die Behinderten gefragt? Wearable Technologies sollten dazu führen, dass wir eine Behinderung nicht verstecken, sondern vielleicht sogar zelebrieren. Bei Neuentwicklungen sind IT-Leute involviert, die sagen "Ha, damit können Gelähmte wieder laufen", aber vielleicht wollen die das gar nicht. Vielleicht wollen behinderte Menschen einfach nur nicht auf Barrieren stossen. Müssen wir uns wirklich immer an den vermeintlich nicht behinderten Menschen orientieren und dann auch so aussehen? Warum sehen Prothesen immer aus wie Beine? Warum haben sie keine Räder? Was ich sagen will: Wir müssen aufpassen, dass wir mit Technologie nicht anfangen, uns zu normieren.
Es geht um die Deutungshoheit. Rollstuhlfahrer müssen nicht laufen können. Ein Rollstuhl, der Treppen überwinden kann, ist genauso gut.
Ein solcher Rollstuhl soll in Japan entwickelt worden sein.
Das gibts in Deutschland auch schon. Die sind aber elend langsam und das ist oft auch ein Sicherheitsproblem. Ich war kürzlich in Tokio. Japaner sind ja viel technologiegläubiger als wir. Sie erleichtern sich mit Technologie das Leben. Die bauen mitten in der Stadt Rolltreppen, obwohl man nur zehn Stufen überwinden müsste. Als wir dort waren, kamen wir auf einmal an eine U-Bahn-Station, wo es nur eine Rolltreppe gab. Und im Rollstuhl auf die Rolltreppe - das ist immer noch schwierig. Jedenfalls kam dann ein Stationsvorsteher, der einen Knopf drückte, worauf sich die Rolltreppe zum Lift wurde, wie bei Transformers. Das habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.
Das ist ein Beispiel für eine Technologie, die so einfach, so trivial ist, dass sie überall möglich sein sollte. Ironischerweise stammt die Technik in diesem Fall von ThyssenKrupp – in Deutschland habe ich so etwas aber noch nie gesehen.
(Interview und Foto: Maurizio Minetti)

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