Tag zwei am Swiss Economic Forum: Die digitale Praxis in der Schweizer Wirklichkeit. Und die Hoffnungsträger, die Preisträger unter den Startups.
Olalala, die Schweizer Wirtschaft, die Schweizer Wirtschaft. Die Entscheidungsträger, so denkt man, wenn man Tag eins des Swiss Economic Forums Revue passieren lässt: Ergraut und in einer Schockstarre angesichts von Tech-Startups, KI und Nanotech sollen sie sein. Diese Geschäftswelt-Wildnis überall! Mut brauche man. Mut! Neue Denkweisen! Macht mal fürschi, heisst es implizit.
Um sich mental fit zu trimmen, haben manche Teilnehmer gar in Zelten übernachtet (nicht allzu weit von der gut erschlossenen Interlakner Infrastruktur entfernt). Der Eröffnungsredner, Futurologe Yuri van Geest, wählte denn auch eine gewalttätige Metapher, um die Manager und Unternehmer aufzuwecken: "Was technologisch geschieht, das ist wie ein Tsunami", sagte er und zeigte Bilder der realen, tödlichen Welle und staunende Touristen. Gemeint hat er mit dem Tsunami Quantencomputer, Roboter bauende Roboter und KI. Und er sagte als Erster am SEF überhaupt das "B-Wort": Blockchain. 8.45 Uhr war dies.
Man müsse Denkmuster aufgeben, so van Geest, über KI nachdenken und seine Firma flexibel, agil und in selbstverwalteten Teams reorganisieren. "Kill your darlings!" gab er uns auf den Weg und die Forderung nach "Mut" tauchte auch an Tag zwei häufiger auf als "geh in die Cloud!" oder "Big Data bringt was".
Die teilnehmenden Entscheidungsträger fühlen sich offenbar nicht als unflexible, überforderte Bedenkenträger beleidigt. Und sie wähnen sich auch nicht als Ältere auf einer Abschussliste. Sie applaudieren. Waren diese Applaudierenden die 74 Prozent der Teilnehmer, welche am Vorabend sagten, sie seien bereit für den nächsten Schritt der Digitalisierung?
Karl-Erivan W. Haub, CEO und Inhaber der Tengelmann Group schaffte es knapp, die Tsunami-Metapher zu drehen, und die Digitalisierung mit einer Christoph-Kolumbus-Analogie zu illustrieren. Die Vertreter bekannter Schweizer Tech-Firmen auf den VIP-Plätzen dürften sich gefreut haben. "Tsunami als Chance", ist wirklich schwer verkäuflich.
Haub riet denn aus seiner Konzern-Inhaber- und VC-Investor-Erfahrung, sich persönlich auf die Technologie einzulassen, sich ein völlig neues Netzwerk aufzubauen und fernab der Headquarters ein Experimentier-Lab mit Budget zu leisten, während man das 'Brot und Butter'-Business nicht vernachlässigen dürfte.
Fast sah man das Image unserer Wirtschaftselite als neugierige, flexible und rationale Fachkräfte wiederhergestellt. Doch sofort schob Haub nach, all die Top-CEOs börsenkotierter Firmen würden VC-Funds primär aus Angst vor jungen Disruptoren gründen.
Zwischenbilanz: Skepsis und Angst vor der Digitalisierung herrschen hierzulande vor, glaubt man den Aussagen auf dem Podium. In den vielen Networking-Pausen kriegt man in Gesprächen allerdings eher ein Bild von sorgfältig abwägenden, vorsichtigen Teilnehmern.
Wildnis und Regulierung
Würde man nun, spät morgens, endlich Mut, Zukunftsvertrauen und Entschlossenheit sehen, wenn in einem Panel Vertreter von Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften zu Wort kommen? Na ja. Drei 50plus-Herren sinnierten vor allem über Regulierung und die Regulierungsdichte. Am Regulierungs-Bashing kann sich jeder Entscheider aufbauen und Mut zeigen. Der 36-jährige Nationalrat Marcel Dobler, Digitec-Gründer und ICT-Dachverbands-Präsident versuchte auf dem Podium die Themen "Angst vor Digitalisierung abbauen" und "E-ID" zu lancieren. Aber das interessiert nicht. Bei der Arbeitszeiterfassung und den Gesundheitsvorschriften, da lauern im Schweizer Dschungel die wahren Gefahren, beschieden die andern Panelteilnehmer. Da wäre mehr Wildnis gefragt.
Thema autonome Autos? Dobler macht sich Gedanken über Haftungsfragen. Aber der Publizist und "Elder Showman der Deregulierung", Beat Kappeler, glaubt nicht daran, dass autonome Autos in der Schweiz Realität werden. Für solche müsste man ja Einfahrten begradigen und hiesige Mäuerchen würden die Autotechnologie überlisten. Lieber denkt er über freie Krankenkassenwahl nach.
Und die Industrie
Give me a break, denkt man sich. Und man kriegt endlich eine Breakout-Session. In einer davon, Thema "Wie schafft die Industrie mit digitalen Lösungen neue Werte?" gab es endlich ein bisschen Digitalisierungspraxis. ABB-CDO Guido Jouret erläuterte, dass sich in der Industrie dank der immer Software-lastigeren Produkte plötzlich auch SaaS-Geschäftsmöglichkeiten bieten. Industrie 4.0 im Abo-Modell. Und dass ABB Blockchain-Technologie im Energiebereich für sehr interessant hält. Geht doch.
Und Theo Schmid, Leiter Product Supply Management beim Ovomaltine-Hersteller Wander bestätigte einen weniger beachteten Nebenaspekt der Digitalisierung der Industrie: Die Schweizer Lohnkosten bilden in der Ovomaltine-Herstellung inzwischen nur noch einen fast vernachlässigbaren Teil der Kosten in der gesamten Wertschöpfungskette. 70 Prozent der Kosten entstehen in der Produktherstellung, Verpackung undsoweiter. Und die will und kann man mit weitestgehender Automatisierung senken. So werde die Schweizer Industrie kompetitiv. "Die geographische Nähe von Industrie und Software-Schmieden ist eine Riesen-Chance!" Wander betreibt deswegen Re-Inshoring und Insourcing in die Schweiz in Form einer neuen Fabrik. Sieben zusätzliche Stellen seien bei Wander deswegen entstanden. Praktiker Schmid empfahl der Schweiz mehr Trial-Error-Mentalität, Partnerschaften und eine Strategie der kleinen Schritte. Geht doch ganz schweizerisch.
Ausgezeichnete Startups
Derart gestärkt schritt die Schweizer Wirtschaft von Betty-Bossi bis zum Nationalbank-Präsident in den nächsten Etappe: Die 19. Vergabe des SEF.Awards, den man als wichtigsten Startup-Preis vermarktet. In Zahlen: Aus 250 Bewerbungen resultierten Jury-Besuche bei 24 Jungunternehmen, 18 Campus Days und dann neun Finalisten in drei Kategorien.
In der Kategorie Produktion/Gewerbe siegte Geosatis mit ihren Fussfesseln. Die Digitalisierung macht auch vor Gefängnissen nicht halt, könnte man sagen. Für die Jury zählte der globale Markt, die Chancen auf Ausweitung der Branchen und das bewiesene Durchhaltevermögen. 35 Mitarbeiter hat Geosatis aus dem EPFL-Umfeld und ist seit 2011 am Markt.
In der Kategorie High-Tech/Biotech gewann das EPFL-Spinoff Gamaya mit Drohnen und einer Smart-Farming-Lösung, welche die Effizienz bei Bauern erhöhen will und den Chemie-Einsatz reduzieren. Die 2015 gegründete Firma hat 18 Mitarbeiter.
Am härtesten umkämpft war rein numerisch die Kategorie Dienstleistungen, in welcher 50 Prozent aller Kandidaturen eingereicht wurden. Es gewann das Zürcher Startup Felfel, ein Mix aus Lunchbox-Service für Firmen und Software-Lösung. 22 Mitarbeiter und 82 Firmenkunden zählt Felfel und wurde 2013 gegründet.
Applaus!
Misst man aber die Applausstärke und -dauer, so erkoren die 1350 Teilnehmer ihren eigenen Publikumsliebling. Den grössten Applaus erhielt nicht einer der Wirtschaftsgranden und kein Star mit Silicon-Valley-Gütesiegel, sondern einer, der sich als Berner KMU vorstellte: Der Schriftsteller Pedro Lenz. Er las ein Stabreim-Stakkato aus Floskeln, Sprichwörtern und Binsenwarheiten aus der Geschäftswelt.
Fazit: Machine Learning hin, Regulierungsdichte her: noch kann man in der Schweizer lachen. Und derart intellektuell erfrischt schlenderte man zum Networking oder zum Buchladen im Eingangsbereich und erwarb ohne Twint viel Digitalisierungsinspiration basierend auf der guten alten Gutenberg-Technologie. (Marcel Gamma)