

Kontroverses Gemeindeinformatikprojekt geht an IT&T
30. Juni 2010 um 14:22
Der Verein Schweizerische Städte- und Gemeinde-Informatik hat sich für das auf Microsoft NAV basierende "newsystem® public" entschieden.
Der Verein Schweizerische Städte- und Gemeinde-Informatik hat sich für das auf Microsoft NAV basierende "newsystem® public" entschieden.
Vor rund einem halben Jahr berichteten wir über die Kontroverse um eine öffentliche Software-Ausschreibung des Vereins SSGI (Schweizerische Städte- und Gemeindeinformatik). Obwohl es sich um eine sehr wichtige Ausschreibung handelte – potentiell könnte die Lösung von bis zu 190 Gemeinden aus den Kantonen Luzern, Aargau, Schaffhausen, Obwalden/Nidwalden, Bern und Appenzell-Ausserrhoden beschafft werden – nahmen die beiden wichtigsten Schweizer Gemeindesoftwareanbieter Ruf Informatik und NEST / Abacus beziehungsweise deren Partner aufgrund einiger Passagen in der Ausschreibung nicht daran teil. Dabei ging es vor allem um das von der Ausschreibergemeinschaft angestrebte Miteigentum an der Software.
Auch Microsoft verdient mit
Wie aus einem Brief von publis an Aargauer Gemeinden hervorgeht, der vor drei Wochen verschickt wurde, hat sich der SSGI nach der Evaluation nun für das Produkt "newsystem® public" des Rotkreuzer Unternehmens Information Trust & Technology (IT&T) entschieden. publis ist ein Unternehmen, das Aargauer Gemeinden gehört. Es soll ihnen und anderen Gemeinden anbieterneutrale Informatikberatung bieten und ihre Interessen gegenüber Informatiklieferanten vertreten. publis ist im Vorstand des SSGI vertreten.
IT&T gehört seit zwei Jahren dem deutschen Unternehmen Infoma Software Consulting. "newsystem® public" setzt auf Microsoft Dynamics NAV auf und siegte in der Ausschreibung gemäss publis aufgrund "seiner Wirtschaftlichkeit und seiner umfassenden Funktionalität." Der Kernbereich "eGov" soll, basierend auf einer SOA-Architektur, im Rahmen des Projekts völlig neu entwickelt werden. Der SSGI will zusammen mit seinen Mitgliedern einen SSGI-Standard erarbeiten, der ab Mitte 2011 ausgerollt werden kann.
publis lobt in seinem Brief zur Entscheidung die Qualität der eingegangenen Offerten, und dass der "höchst anspruchsvolle Anforderungskatalog" von den Offerierenden "sehr gut aufgenommen und umgesetzt" worden sei.
Neues Kooperationsmodell angestrebt
Der SSGI verfolgte über die Ausschreibung das Grundziel, eine neue Informatiklösung für seine Mitglieder sowie die ebenfalls bei der Auschreibung beteiligten Kantone Obwalden, Nidwalden und Appenzell Ausserrhoden zu evaluieren, und dafür einen Rahmenvertrag abzuschliessen. Die Lösung soll möglichst konform zu den eCH-Standards sein und die wesentlichen Aufgabenbereiche von Einwohnerkontrolle und Adresswesen, Lohn, Finanz- und Rechnungswesen, Gebühren- und Werksrechnungen, sowie die Finanzbereiche der genannten Kantone abdecken. Ob die Lösung tatsächlich beschafft wird, ist aber letztlich den einzelnen Mitgliedern und Kantonen überlassen.
Die Ausschreibergemeinschaft strebte zusätzlich auch eine Lösung an, die von den Kunden möglichst weitgehend in einem reinen Betriebskostenmodell mit konstanten jährlichen Gebühren bezogen werden kann, sowie ein neues Kooperationsmodell und ein Miteigentum des SSGI und der Kantone an der Software. Das neue Kooperationsmodell und das Miteigentum sollen einerseits eine enge langfristige Entwicklungszusammenarbeit zwischen Anbieter und SSGI ermöglichen und es dem Verein andererseits erlauben, nach dem allfälligen Abbruch einer Zusammenarbeit die dannzumal aktuellste Lösung problemlos von jemand anderem betreuen und weiterentwicklen lassen zu können.
Miteigentum auch an bestehenden Modulen?
Der SSGI, heisst es in den inside-it.ch vorliegenden Ausschreibungsunterlagen, werde "zu diesem Zweck zusammen mit dem Anbieter eine schlagkräftige und produktive Organisationsform für die Planung, Definition, Prüfung und Einführung neuer Funktionalitäten in den Kern- und Ergänzungsmodulen aufbauen und während der Laufzeit von 8 Jahren unterhalten. Dadurch ist der Anbieter stets zuvorderst in den Entwicklungen der e-Government-Strategie Schweiz eingebunden und erhält professionelles Fachwissen von ausgewiesenen Fachspezialisten der kommunalen und kantonalen Prozesse und Fachanwendungsanforderungen kostenlos zur Verfügung gestellt."
Das Hauptproblem für die abseits bleibenden Anbieter NEST / Abacus und Ruf Informatik war, dass in der Ausschreibung auch von Miteigentum an bestehenden Kernmodulen, nicht nur an Neuentwicklungen, die Rede ist. "Im Gegenzug sollte der Anbieter bereit sein, die Kernmodule des Adresswesens und der Einwohnerkontrolle sowie alle Individualentwicklungen daran dem Verein SSGI sowie den Kantonen Obwalden, Nidwalden und Appenzell Ausserrhoden von Anfang der Zusammenarbeit an in ein Miteigentum zu geben. Von den Kernmodulen des kommunalen Finanz- und Rechnungswesens wird erwartet, dass der Anbieter von Anfang der Zusammenarbeit an ein Miteigentum einräumt."
Nach Ablauf der Zusammenarbeit soll der Softwareanbieter die dann aktuelle Lösung ohne finanzielle Abgeltungen an den SSGI weiterentwickeln und vertreiben können. Auch der SSGI oder eine Nachfolgeorganisation, die aber keine kommerziellen Interessen verfolgen dürfen, sowie die Kantonen Obwalden, Nidwalden und Appenzell Ausserrhoden sollen ebenso berechtigt sein, mit einem allfälligen anderen Anbieter oder einer Entwicklungs-Gemeinschaft die Software selber weiterzuentwickeln und "den dannzumaligen Mitgliedern unter einem angemessenen Überlassungsmodell zur Verfügung zu stellen."
Dies ist, so muss betont werden, alles nicht als absolutes Kriterium formuliert, sondern als Wunschvorgabe der Ausschreiber. Anbieter könnten beispielsweise auch, so wird eingeräumt, statt Miteigentum zu gewähren, den Aufwand des vom SSGI gestellten Fachpersonals zu einem marktüblichen Stundenansatz bezahlen. Das Miteigentum werde aber bevorzugt. Auch ob für Miteigentum eine Entschädigung verlangt werde, oder nicht, sei eine freie Entscheidung des Anbieters. Ein kostenlos oder gegen geringe einmalige Kosten
eingeräumtes Miteigentum an den Kernmodulen werde aber punktemässig besser bewertet.
Was hat IT&T eingeräumt?
Interessant wäre es nun natürlich sowohl für andere Gemeinden und Kantone als auch Softwareanbieter, genau zu wissen, wieviel Miteigentum der Ausschreibungsgewinner IT&T dem SSGI und den Kantonen gewährt hat, beziehungsweise gewähren kann (Es ist stark zu bezweifeln, dass beispielsweise Microsoft Eigentumsrechte an Dynamics NAV teilen will.) Im Brief von publis zum Zuschlag steht dazu nur, dass "der SSGI für seine Mitglieder ein Miteigentum an den wichtigsten Fachbereichen, welche neu entwickelt werden" verlange.
Sowohl der SSGI als auch IT&T wollten inside-it.ch zu unserer diesbezüglichen Fragen leider noch keine Antworten geben. Die gibt es aber vielleicht am Freitag. Man nehme "bis zum 2.7.2010 in dieser Sache keine Stellung", so SSGI-Präsident Lukas Fässler, werde dann aber "selber die Medien informieren."
Morgen auf inside-it.ch: Reaktionen von Ruf, NEST und Abacus
Eingehend verfolgt wurde der Ausgang der Auschreibung natürlich auch von den beiden etablierten Anbietern, die auf eine Teilnahme verzichtet haben, und die beide auch bereits bestehende Kunden unter den Gemeinden haben, die sich nun für die neue Lösung entscheiden könnten.NEST / Abacus glaubt nun, dass die Anforderungen der Ausschreibung bei der Vergabe anscheinend entscheidend geändert worden seien. Lesen sie morgen auf inside-it.ch mehr zu den Stellungnahmen von Ruf Informatik und NEST / Abacus zur SSGI-Zuschlagsverfügung. (Hans Jörg Maron)
(Interessenbindung: Abacus und Ruf Informatik sind Werbekunden unseres Verlags)
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