Mit hoher Wahrscheinlichkeit hast du auch schon mindestens einmal von dieser ungeheuerlichen Story gehört oder (bevorzugt im 'Blick' oder einer Tamedia-Publikation) davon gelesen: Zwei Jungunternehmer haben mit ihrer Handelsfirma Emix Trading dem Bund im letzten Jahr in schamloser Ausnützung der Pandemie-Situation mangelhafte und überteuerte Atemmasken zu Wucherpreisen von bis zu 10 Franken pro Stück verkauft. Damit wurden sie zu Millionären, bezahlt aus Steuergeldern. Frecherweise haben sie sich auch noch gleich Ferraris für mehrere Millionen gekauft. Ein absoluter Skandal!
Offen gesagt, auch mir ging die Galle hoch, als ich davon erfuhr und damit selbst Opfer eines Klick-versessenen Sensationsjournalismus wurde, der ganz bewusst auf meine Vorurteile zielte und sie 1:1 zu bestätigen schien.
Doch die Geschichte dahinter ist – wie immer – deutlich vielschichtiger, als es auf Anhieb den Anschein macht. Ohne allzu grosse Motivation begann ich letzte Woche beim Frühstück die
'NZZ'-Reportage "Ich habe keine Sekunde ein schlechtes Gewissen – Die Pandemie macht Luca Steffen und Jascha Rudolphi zu Millionären" zu lesen. Je länger ich las, desto verblüffter war ich, ob der sehr differenzierten Story, die sich da vor mir ausbreitete. Am Ende des Artikels angekommen, hatte ich meine Meinung grundlegend geändert. Den beiden Jungs gilt seither mein Respekt.
Mein Sinneswandel begann da, wo der herausragende 'NZZ'-Beitrag die Fakten zu den Vorwürfen "Fälschung", "Qualitätskritik" und dem "Wuchervorwurf" zusammenfasste. Auf einmal sah die Welt nämlich deutlich differenzierter aus und man könnte problemlos auch argumentierten, der Skandal spielte sich intensiver auf Käufer- als auf Verkäuferseite ab. Vor allem lernte ich aber auch, dass Emix Trading die meisten Masken nicht an die Schweiz, sondern an andere europäische Länder (allen voran Deutschland) verkauft hatte und somit der grösste Teil der Gewinne auch von dort her stammte. Weiter erfuhr ich, dass sich das Maskengeschäft zu Beginn der Corona-Pandemie wie im wilden Westen abspielte und, dass es dort vor zwielichtigen Gestalten und Betrügern nur so wimmelte. Dass sich Emix Trading in diesem Umfeld behaupten konnte und von vielen ihrer Kunden für ihre Seriosität sogar gelobt wurde, spricht eher für als gegen das Unternehmen.
Aus unternehmerischer Sicht ist aber vor allem die Firmengeschichte Emix Trading hochinteressant und insbesondere die Erzählung, wie es den beiden Jungunternehmern überhaupt gelungen war, das Maskengeschäft zum Abschluss zu bringen. Da lief nämlich gar nichts schnell und unproblematisch und schon gar nicht straight forward. Völlig im Gegenteil. Gegründet wurde die Firma bereits 2016. Bis zum grossen Maskendeal schlugen sich die beiden Inhaber mehr schlecht als recht durch und wären, hätten sie von dem Unternehmen leben müssen, wohl verhungert. Mit enormer Energie und Motivation zur "Problemlösung" – wie sie es selbst nennen – hatten sie alle möglichen Dinge ausprobiert und lebten von wenig Geld. Faktisch von Beträgen, die in keiner Relation zum unternehmerischen Einsatz lagen.
Richtiggehend Herzklopfen bekam ich jedoch, als ich über die gigantischen Risiken des Maskengeschäfts las. So mussten die Jungunternehmer in völlig chaotischer und unvorhersehbarer Situation im letzten Februar im Voraus mehrere Flugzeuge für den Transport von China nach Europa chartern, Millionen von Masken verbindlich einkaufen, als der Bundesrat und Daniel Koch noch behaupteten, Masken nützen gegen das Virus nichts und waren ständig davon bedroht, dass Grenzen von einem Tag auf den anderen auch für Waren hätten geschlossen werden können. Das war zweifelsohne eine komplette "All-in-Strategie", die genauso gut in einer Pleite hätte enden können.
Hand aufs Herz eines jeden Unternehmers, der diese Zeilen liest. Haben Sie in Ihrer unternehmerischen Karriere schon jemals Risiken in diesen Grössenordnungen auf sich genommen? Ich jedenfalls nicht. Am allerwenigsten, aber sicher all diejenigen, die sich über das Gebaren der beiden Jungunternehmer grässlich aufgeregt haben und es noch immer tun.
Die von der 'NZZ' recherchierten Fakten sprechen nämlich eher zugunsten von Luca Steffen und Jascha Rudolphi. Dass die Beiden clever sind, ist offensichtlich. Mir scheint aber viel entscheidender zu sein, dass sie enormen Mut für unternehmerisches Risiko an den Tag gelegt haben. Eine Eigenschaft, die in diesem Narrativ die wesentlich grössere Rolle spielt als bloss Cleverness, dem halt immer auch ein wenig etwas Anrüchiges anhaftet.
Damit will ich jetzt den Bogen zur IT spannen. Im März 2020 behauptete ich
"Nach Corona geht für die IT die Post ab". Viele IT-Firmen mussten allerdings dafür nicht mal bis nach Corona warten, sie feierten bereits während der Pandemie ihr "best Year ever", was meine Aussage aber nicht falsch macht. Der ganz grosse Boom wird – beginnend ab dem zweiten Halbjahr 2021 – noch kommen, davon bin ich überzeugt. Profitieren werden aber primär diejenigen Unternehmen, die schon jetzt bereit sind, schnell und richtig in den wirtschaftlichen Aufschwung zu investieren und sich dafür bereitzumachen. Dazu gehören Mut und das Eingehen von Risiken. Das sollten wir aus dieser Geschichte primär lernen, so meine ich.
Die Sache mit den sauteuren Ferraris, finanziert durch Steuergelder (was gedankentechnisch ohnehin völliger Unfug ist), ist bloss die moralische Komponente der Geschichte. Mit dem unternehmerischen Teil hat sie aber nur wenig zu tun.
Urs Prantl war über 20 Jahre Softwareunternehmer. Seit 2012 begleitet er IT- und Software-Unternehmen auf ihrem Weg zu nachhaltig gesundem Wachstum und ist als M&A-Transaktionsberater in Nachfolgesituationen tätig. Er äussert als Kolumnist für inside-channels.ch seine persönliche Meinung.