Uni Zürich entwickelt "kulturschockende" Software

29. November 2005 um 14:21
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Kollaborative Textverarbeitung, Tool für Knowledge Management oder Grosser Bruder mit Radar? Die Universität Zürich hat zum ersten Mal eine Software patentieren lassen.

Kollaborative Textverarbeitung, Tool für Knowledge Management oder Grosser Bruder mit Radar? Die Universität Zürich hat zum ersten Mal eine Software patentieren lassen.
Das Institut für Informatik der Universität Zürich hat heute einen Prototyp einer Software vorgestellt, die kollaborative Textverarbeitung ermöglicht. Darunter versteht man – grob gesagt – dass mehrere User gleichzeitig an einem Dokument arbeiten können. Diesen Aspekt der Software mit dem Namen TeNDaX (Text Native Database eXtension) wollen die Entwickler aber gar nicht so besonders hervorheben. Im Gegenteil: Gemäss dem Projektleiter Dr. Thomas B. Hodel-Widmer hat die Software viel mehr als das zu bieten.
Entstehung
TeNDaX (sprich: Tenda-iks) entstand in vierjähriger Arbeit eines Forschungsteams der Universität Zürich. Über dreissig Studierende haben im Zuge ihrer Diplomarbeiten (Dauer: Je sechs Monate) aus der Idee von Dr. Thomas B. Hodel-Widmer eine Datenbank-basierte Software entwickelt. Die staatlichen Mittel für dieses Projekt hielten sich in Grenzen. 300'000 bis 350'000 Franken wurden während drei Jahren in das Projekt investiert. Viel mehr waren die Projektverantwortlichen auf die Unterstützung aus der Industrie angewiesen.
Der US-amerikanische Datenbank-Hersteller InterSystems lieferte kostenlos die Datenbank "Caché", auf welcher TeNDaX basiert. Das Projekt kann mittlerweile als abgeschlossen gelten, da sich die Uni vor einem Jahr für die Patentierung entschieden hat. Dabei handelt es sich um das allererste Softwarepatent der Universität Zürich, wie Prof. Dr. Alexander Borbély, Prorektor Forschung, erklärte.
Und so funktioniert's
Mit TeNDaX können mehrere User das gleiche Dokument öffnen und gleichzeitig Änderungen vornehmen. Seien es inhaltliche oder gestalterische. Falls ein User beispielsweise auf Seite 30 eines Dokuments einen Abschnitt überarbeitet und jemand anders auf Seite 2 mehrere Absätze löscht und dauernd nach oben und unten scrollt, merkt der erste User nichts davon. Das Dokument bleibt immer dort, wo der eigene Cursor steht. Im schlimmsten Fall sieht man anhand eines integrierten Radars, wo sich die anderen User gerade "befinden".
Änderungen sind in Echtzeit ersichtlich. Man kann förmlich zuschauen, wie Eingaben von anderen Usern erfolgen. Es gibt kein "Speichern"-Symbol. Jedes Zeichen, das eingegeben wird, speichert TeNDaX automatisch in die Datenbank. Auch wenn man es nachträglich wieder löscht, ist der Arbeitsschritt dennoch nachweisbar. Wie der Leiter des Instituts für Informatik, Prof. Dr. Klaus R. Dittrich, sagte, werden in TeNDaX die kleinsten Zeichen als Datenbankobjekte behandelt. Dies erfordere zwar viel Speicherplatz, aber in der Regel sei dies heutzutage ja kein Problem mehr.
Die Projektverantwortlichen haben anhand eines Windows-Servers getestet, wie viele User gleichzeitig an einem Dokument arbeiten können. Geht man von 180 Anschlägen pro Minute aus, sind es 382 User. Der CEO von eValueDrugs, Gene Odle, sagte, es müsse das Ziel verfolgt werden, dass Tausende von Usern von überall auf der Welt auf ein Dokument gleichzeitig zugreifen könnten.
Stichwort Metadaten
Obwohl TeNDaX selbst auf der offiziellen Homepage als kollaborative Textverarbeitung betitelt wird, betonen die Projektverantwortlichen, dass dies bloss ein Feature unter vielen anderen ist. Zum Beispiel ist die Rede von Metadaten. Darunter versteht man Grundinformationen über ein Dokument. Also beispielsweise Angaben über Autor, Titel oder Zeitpunkt der Herstellung einer Eingabe. Metadaten werden in TeNDaX automatisch gespeichert.
Dies ist anhand einer regelrechten Entstehungsgeschichte eines Dokuments möglich. Selbst nach Jahren können einzelne Eingaben einfach wieder rückgängig gemacht werden. Dann ist diese Änderung wiederum nachlesbar. Jeder Schritt wird akribisch dokumentiert. Diese Möglichkeit hob Hodel besonders hervor. Denn damit könne Knowledge Management betrieben werden. Da man anhand eines Dokuments genauestens nachverfolgen kann, wer was gemacht hat, könnte die Entstehungsgeschichte eines Dokuments für Arbeitgeber ein nützliches Tool sein, um Leute "mit einem gewissen Know-how" zu finden, sagte Hodel.
Einsatzmöglichkeiten
Das Rückverfolgen von Eingaben ist ein Feature, das insbesondere in der Finanzwelt Anklang finden könnte. Da spätestens seit der Enron-Pleite viele Regelungen eingeführt wurden, aufgrund derer alles genauestens dokumentiert werden muss, könnte die Entstehungsgeschichte eines Dokuments diese Arbeit automatisch übernehmen. Es wäre bei einem Dokument ersichtlich, wer, wann, wie schnell, was eingegeben hat. Weil man auch nachlesen kann, wie schnell ein Text getippt wurde, merkt man schnell, ob ein Text hineinkopiert oder direkt getippt wurde. (Copy-Paste-Journalismus könnte ein für alle Mal entlarvt werden.)
Die Arbeit an Gesetzestexten, wo bekanntlich jedes Komma wichtig ist, könnte mit TeNDaX ebenfalls erleichtert werden. Auch Evaluationsberichte, Jahresberichte etc. werden im Normalfall von verschiedenen Personen bearbeitet. Auch dort, wo einzelne Arbeitsschritte genauestes dokumentiert werden müssen, wie bei Unfallprotokollen im Bereich der Luftfahrt, scheint TeNDaX die richtige Lösung zu sein.
Kulturschock
Allerdings muss man sich fragen, ob dieser neue Umgang mit Dokumenten nicht einen zu grossen Einschnitt in die bisherige Praxis bedeutet. Einen regelrechten Kulturschock für User. Wenn man weiss, dass jeder einzelne Schritt in einem Dokument nachweisbar ist, dann geht das schon in die Richtung eines Big Brothers, der einem dauernd auf die Tastatur schaut. Hodel sagte, dass ein neues Team aus Studierenden gebildet wurde, das TeNDaX ausgiebig testet. Nun will er evaluieren, ob diese Studierenden sich beim Tippen in TeNDaX wohl fühlen, oder ob sie allenfalls in einem parallelen Word-Dokument zuerst den Text tippen, bevor sie ihn "reinschreiben".
Sollte TeNDaX einmal als Web-Service zur Verfügung stehen und wäre vielleicht Google der Besitzer von TeNDaX, würde man schon bald von Monitoring sprechen, und wer weiss, vielleicht kommt es ja soweit. Erstens sucht die Uni Zürich nach Partnern, die Geld und Marketing in das Projekt reinstecken um es zu kommerzialisieren. Und Zweitens ist ein Web-Portal bereits in Planung. Dabei stellen sich die Entwickler eine Art erweitertes Wiki vor (eine Dokumentensammlung, die online gelesen und geändert werden kann), das jeden Arbeitsschritt sorgfältig registriert.
Hodel hat Recht, wenn er TeNDaX eine "ganz andere Philosophie" nennt. Ob diese allgemein akzeptiert wird, kann man noch nicht sagen. Ausserdem hat die Software noch mit Kinderkrankheiten zu kämpfen, wie die Verzögerung bei der Visualisierung der Eingaben. Wer sich selber ein Bild von TeNDaX machen will, kann sich hier registrieren und eine Testversion herunterladen. (Maurizio Minetti)

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