Und jetzt ist es wieder einmal so weit. Mit der Vorstellung von ChatGPT im November 2022 sehen wir ganze Herden von KI-Säuen, die diesmal durch alle Teile der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik getrieben werden. Und wieder muss ich feststellen, auch KI wird keine Wettbewerbsvorteile schaffen. Und wieder werden viele IT-Exponenten denken, dass dies eine komplett falsche, wenn nicht sogar fatal falsche Einschätzung ist. Aber ich stehe dazu und erkläre auch gerne warum.
Zu Beginn will ich zuerst noch auf den leicht geänderten Titel dieser Kolumne hinweisen. Für einmal formuliere ich meine Behauptung in der Zukunftsform und nicht im Präsens. Wer nämlich bereits jetzt mit Mut und innovativer Tat KI für sein Unternehmen nutzt, der kann sich vorübergehend durchaus Wettbewerbsvorteile erarbeiten. Diese werden allerdings nur von geringer Haltbarkeit sein. Auf mittlere bis lange Sicht wird eben auch KI zu einer Selbstverständlichkeit werden, die an jeder Ecke (käuflich) erworben werden kann und kaum einen Beitrag zu einer strategisch relevanten Wettbewerbsdifferenzierung leisten wird.
Was ist ein strategischer Wettbewerbsvorteil?
Doch nun zurück zum eigentlichen Thema. Was ist ein strategischer Wettbewerbsvorteil? Damit wir von einem echten Wettbewerbsvorteil sprechen können, müssen drei zentrale Voraussetzungen erfüllt sein.
- Der Wettbewerbsvorteil muss erstens für den anvisierten Kunden zu einem nachhaltigen Mehrwert umgemünzt werden können. Das ist bei KI-basierten Use-Cases fast immer der Fall. Nicht selten ist der von KI gestiftete Mehrwert sogar sprichwörtlich mind blowing. Diese Voraussetzung können wir also getrost als gegeben abhaken.
- Zweitens darf der Wettbewerbsvorteil von der Konkurrenz nicht einfach – meistens mit anderen Mitteln – imitiert werden können. In der IT-Praxis nutzen wir für solche Imitationen nicht selten Powerpoint ("Entweder du hast Powerpoint, oder was zu sagen"), einen Prototypen oder sogar ein MVP (Minimal Viable Product). Da KI-Tools bereits tonnenweise erhältlich sind, liegt das Problem jedoch vielmehr darin, das richtige Tool zu finden und weniger darin, ob es für den konkreten Use-Case überhaupt schon eines gibt oder nicht. Die Konkurrenz muss sich also gar nicht die Mühe einer Imitation machen, sie kann sich gleich ein funktionierendes KI-Tool beschaffen, welches den vermeintlichen Wettbewerbsvorteil spielend aus den Angeln hebt.
- Drittens muss der Wettbewerbsvorteil zu einer für Kunden wahrnehmbaren und nachhaltigen Differenzierung gegenüber den Mitbewerbern führen. Nachhaltig ist der Wettbewerbsvorteil dann, wenn er einen zeitlichen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz von sicher einem, noch besser zwei Jahren verschafft. Angesichts des atemberaubenden Tempos der KI-Entwicklung der letzten 1,5 Jahre (seit Erscheinung von ChatGPT auf der Bildoberfläche) ist ein nachhaltiger Wettbewerbsvorteil von nur schon einem Jahr allerdings reines Wunschdenken.
Kommt weiter hinzu, dass (generative) KI zwar für viele eine Geheimwissenschaft ist, aber dennoch jederzeit und überall, wenn auch oftmals käuflich, frei erworben werden kann. Der Engpass liegt also nicht bei den KI-Tools selbst, sondern vielmehr bei den Spezialisten, die sie für Unternehmen und Organisationen sinnvoll nutzbar machen können.
Zusammengefasst komme ich zum Schluss, dass KI zwar mit Sicherheit einen hohen Mehrwert schaffen kann, da sie aber jederzeit verfügbar ist, schafft sie weder eine nachhaltige Differenzierung gegenüber der Konkurrenz, noch ist sie resistent gegen Nachmacherei. Daher werden sich langfristig auch keine robusten Wettbewerbsvorteile auf ihrer Basis entwickeln lassen.
Ohne KI geht es trotzdem nicht
Nachdem KI per se also keine langfristigen Wettbewerbsvorteile bringt (wie die meisten anderen Technologien übrigens auch), stellt sich vielmehr die wesentlich wichtigere Frage nach der anderen Seite der Medaille. Welche Nachteile entstehen für diejenigen, die nicht auf KI setzen? Ich behaupte, die Nachteile beim Verzicht auf KI werden gravierend sein. Nicht nur, dass damit massive Nachteile im Wettbewerb entstehen, ein Verzicht auf KI im eigenen Unternehmen wird sich über kurz oder lang existenzgefährdend auswirken. Dafür ist die disruptive Kraft von KI viel zu gross.
Es gibt somit keinen Weg vorbei an KI. Egal in welcher Branche. Wer nicht (bald) darauf setzt, handelt sich nicht einfach nur einen Wettbewerbsnachteil ein, sondern gefährdet gar das Fortbestehen seines Unternehmens oder seiner Organisation.
Urs Prantl kreiert zukunftssichere und gesund wachsende IT-Unternehmen und begleitet ihre Unternehmerinnen und Unternehmer bei der Unternehmensnachfolge und beim Firmenverkauf. Gleichzeitig ist er Host des Podcasts Prantls 5A , in welchem die strategische Einzigartigkeit erfolgreicher IT-Unternehmen im Gespräch mit ihren Inhaberinnen und Inhabern im Dialog herausgeschält wird. Als Kolumnist äussert er auf inside-it.ch seine persönliche Meinung.