Meine emotionale Reise durch die Welt des Fachkräftemangels auf inside-it.ch startete im Oktober 2021 mit meinem Beitrag "
Der IT-Fachkräftemangel wird (bald) wieder sinken". Mehr als ein Jahr vor der Lancierung von ChatGPT prophezeite ich, dass KI – rein aus einer wirtschaftlichen Logik betrachtet – dereinst zum Jobkiller im grossen Stil werden würde. Rund ein Jahr später war ich mit "
Der Fachkräftenotstand und die 'Rache der Büezer'" definitiv davon überzeugt, dass wir es (ganz speziell) in der IT mit einem Fachkräftemangel, wenn nicht sogar mit einem veritablen Fachkräftenotstand zu tun haben. Das kollektive Gejammer aus der Branche hatte offensichtlich seine Wirkung nicht verfehlt. Und vor exakt einem Jahr war ich davon überzeugt, dass die Massenentlassungen bei Google & Co.
auch hierzulande zu einer Entschärfung des Fachkräftemangels führen würden.
Seit dem letzten Beitrag vor einem Jahr hat sich die allgemeine Wirtschaftslage verändert und ich bin mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob wir in der IT noch von einem "echten" Fachkräftemangel sprechen können. Anknüpfend an den kürzlich in der NZZ erschienenen Gastkommentar von Reinhard K. Sprenger "
Der sogenannte Fachkräftemangel – ein Wimmelbild" möchte ich seine Metapher aufnehmen und mich fragen, ob wir in unseren IT-Unternehmen wirklich schon alles getan haben, um den beklagten Zustand wirksam zu bekämpfen. Bevor wir uns ständig beschweren, sollten wir nämlich zuerst folgendes tun, beziehungsweise lassen:
- Bestehende Mitarbeitende halten: Sprenger empfiehlt, im Unternehmen ein "warmes, sozial-emotionales Klima" zu schaffen und erinnert daran, dass Mitarbeitende ihr Unternehmen wegen spannender Aufgaben wählen, dieses dann aber wegen ihrer Chefs wieder verlassen. Ergo gilt es gezielt in Ausbildung und Förderung von Führungsqualität zu investieren und das auf dem Fundament einer humanen Unternehmenskultur. Solange in unseren Unternehmen also Menschen arbeiten und nicht bloss KI, sollten diese auch noch über ein menschlich-warmes Umfeld verfügen. Ist das nicht der Fall, so herrscht mit Sicherheit Fachkräftemangel.
- Förderung und Weiterentwicklung von bestehenden Mitarbeitenden: Oft ergibt es Sinn, eine offene Stelle durch bereits im Unternehmen arbeitende Leute zu besetzen und nicht immer gleich reflexartig Neue zu suchen. Wer seine Belegschaft regelmässig weiterentwickelt und fördert, kann auch bei neuen Stellen auf geeignete Kandidaten zurückgreifen.
- Schluss mit "Zero-Gap-Denken": Nicht zuletzt durch die KI-automatisierte Prüfung von Bewerbern haben Stellensuchende mit einem von der Ausschreibung abweichende Profil oft keine Chance mehr. Ironischerweise findet das – vor allem in grösseren Unternehmen – trotz des sogenannten Fachkräftemangels nicht selten statt. Kommt hinzu, dass es gerade die unorthodoxen Bewerberinnen und Bewerber sind, die ein Unternehmen spürbar weiterbringen können. Ganz im Sinne von Kreativität statt Konformität.
- Altersdiskriminierung beerdigen: Auch wenn alle Statistiken behaupten, es gäbe Altersdiskriminierung nicht, ist sie real. Wer ab 50, spätestens aber ab 55 in der IT eine neue Stelle sucht, hat es schwer und sucht nicht selten ein Jahr und länger einen neuen Job. Wieso ist das so, wenn wir gleichzeitig von einem drängenden Fachkräftemangel fabulieren? Ganz einfach, weil sich, ganz speziell in Techberufen, eine hartnäckige Altersdiskriminierung in den Köpfen eingefressen hat und sich Unternehmen gegenseitig mit ihrer Jugendlichkeit zu übertrumpfen versuchen.
- Wachstum auch ohne ständig neues Personal: Es gibt immer noch die Möglichkeit, sein Unternehmen mittels Innovation und neuer Geschäftsmodelle auf einen Wachstumskurs zu bringen. Wie das funktioniert, habe ich in meinem Beitrag "Wachstum geht auch ohne neues Personal" ausgeführt.
Hilft das alles nichts, dann schlage ich vor, Personal-Recruiting mit der Ernsthaftigkeit und Professionalität der Neukundengewinnung zu betreiben. Und zwar mit einem Recruiting aus dem eigenen Unternehmen und nicht – wie noch immer weit verbreitet – durch Outsourcing. Die Erfolgsfaktoren bei der Gewinnung von guten Mitarbeitenden sind nicht mehr (nur): ein attraktives Gehalt, ein cooler Jobtitel, tolle Extraleistungen und der Töggelikasten in der Caféteria, sondern vielmehr das Zwischenmenschliche, das Wohlfühlklima am Arbeitsplatz und der Respekt vor dem Leistungsbeitrag eines oder einer jeden. Das sind alles Dinge, die nur die künftigen Arbeitskollegen und Chefs glaubhaft und authentisch vermitteln können.
Urs Prantl kreiert zukunftssichere und gesund wachsende IT-Unternehmen und begleitet ihre Unternehmerinnen und Unternehmer bei der Unternehmensnachfolge und beim Firmenverkauf. Gleichzeitig ist er Host des Podcasts Prantls 5A, in welchem die strategische Einzigartigkeit erfolgreicher IT-Unternehmen im Gespräch mit ihren Inhaberinnen und Inhabern im Dialog herausgeschält wird. Als Kolumnist äussert er auf inside-it.ch seine persönliche Meinung.