Nicht, dass ich dem seit mehr als zwanzig Jahren amtenden Entwicklungschef von Myfactory den wohlverdienten Ruhestand nicht gönnen würde. Ich frage mich bloss, wie zwei noch bis vor kurzem erbitterte Mitbewerber-ERP vom gleichen Entwicklungsleiter gemeinsam strategisch nach vorne gebracht werden können.
Dazu muss ich kurz ausholen.
Ausgangspunkt jeder guten Unternehmensstrategie ist für mich die zentrale Frage, "Was machen wir für wen mit welchem zwingenden Nutzen sichtbar besser als andere?" Wende ich diese Frage sowohl auf Myfactory wie auch auf Proffix an, so sehe ich eine grosse Überschneidung.
- Fangen wir beim "Was" an. Beide Produkte bieten ein universell einsetzbares ERP mit integrierter Finanz- und Lohnbuchhaltung. Wenn auch jedes Produkt seine funktionalen Spezialitäten hat, so machen sie unter dem Strich das gleiche und lösen damit bei ihren Kunden auch die identischen Probleme.
- Auch bei der Frage "Für wen" sind die Softwarelösungen über weite Strecken deckungsgleich. Beide Produkte richten sich klar an KMU und dort stärker an mittelgrosse wie an ganz kleine Unternehmen. Sie sind also beide zwischen den Cloud-Lösungen für Kleinstfirmen wie Bexio, Klara oder Swiss21.org und den komplexeren und teureren ERP-Lösungen von beispielsweise Microsoft und Abacus positioniert. Einzig bei der geografischen Verbreitung unterscheidet sich Myfactory von Proffix, indem es als ehemals deutsche Entwicklung auch in Deutschland weit verbreitet ist.
- Beim "Zwingenden Nutzen", sehe ich auch nur eine grundlegende Diskrepanz: So bietet Myfactory eine originäre Cloudlösung, wohingegen Proffix nach wie vor auf der Client/Server-Architektur basiert und weder über den Browser bedient, noch als Multi-Tenant-Lösung betrieben werden kann. Am eigentlichen Geschäftsnutzen ändert dies aber nichts und daher spielt es auch für viele Kunden oft keine Rolle, ob das ERP nun "echt" oder nur "unecht" Cloud-tauglich ist. Das Ergebnis ist aus Kundensicht dasselbe.
- Jetzt noch zum Differenzierungsfaktor "Sichtbar besser als andere". In meiner Wahrnehmung ist – und war – Myfactory als das Original aller Cloud-ERPs positioniert. Was in der Cloud-Pionierzeit von vor gut 10 Jahren noch hinderlich war, wurde im Laufe der Jahre, je stärker sich Cloudsoftware durchsetzen konnte, zu einem massgeblichen Erfolgsfaktor. Wohingegen sich Proffix mit seinem Slogan "Ein ERP von einem KMU – wie Du" unmissverständlich als DIE KMU-Software positionierte und diese Stellung auch von der Wahrnehmung her erfolgreich aufbaute und verteidigte. Was also ihre Differenzierung anbelangt, agieren beide Produkte zwar in unterschiedlichen Märkten. Faktisch aber, und das ist unbestritten, lösen sie die gleichen Probleme für die gleichen Kunden und sind daher aus Kundensicht weitgehend identisch und damit austauschbar. Es handelt sich also klar um Konkurrenzprodukte.
Womit ich wieder bei meiner Ausgangsfrage wäre: Wie kann der gleiche Entwicklungsleiter zwei identische ERP-Produkte strategisch parallel so entwickeln, dass nicht zwangsläufig das eine oder andere auf der Strecke bleibt? Und welches könnte das sein? Wenn ich mich an das Not-invented-here-Syndrom erinnere, dann wäre zwar angesichts der Herkunft des neuen CTO die Antwort eigentlich klar. Allerdings, und das hatte ich in meiner August-Kolumne auch hergeleitet, macht es für die neue Eigentümerin beider Unternehmen absolut keinen Sinn, das eine durch das andere Produkt zu ersetzen. Erstens, weil das Investment gar nicht so lange dauern wird, um die Früchte daraus ernten zu können, und zweitens, weil sowohl Myfactory wie auch Proffix ihren Unternehmenswert direkt aus ihrer Software schöpfen.
Trotzdem: Es bleiben gemischte Gefühle zurück. Der neu für beide ERPs verantwortliche Entwicklungsleiter ist nämlich auch nur ein Software-Mensch, der vermutlich bis noch vor kurzem davon überzeugt war, die beste ERP-Software auf diesem Planeten entwickelt zu haben. Wie kann es ihm also gelingen, beide Produkte gleichrangig nach vorne zu bringen, dabei keines zu vernachlässigen und schon gar nicht das eine durch das andere zu ersetzen? Käme es wider Erwarten dennoch dazu, dann wäre die Konsolidierung in diesem Fall ein weiteres Mal konsolidiert worden.
Urs Prantl kreiert zukunftssichere und gesund wachsende IT-Unternehmen und begleitet ihre Unternehmerinnen und Unternehmer bei der Unternehmensnachfolge und beim Firmenverkauf. Gleichzeitig ist er Host des Podcasts Prantls 5A, in welchem die strategische Einzigartigkeit erfolgreicher IT-Unternehmen im Gespräch mit ihren Inhaberinnen und Inhabern im Dialog herausgeschält wird. Als Kolumnist äussert er auf inside-it.ch seine persönliche Meinung.