Ich verfolge mit meiner Kolumne nicht die Absicht, die eine Eigentümerkategorie gegenüber einer anderen auszuspielen. Ich will vielmehr aufzeigen, welche Folgen auf die Stakeholder der gekauften ERP-Firmen zukommen. Die aufmerksamen Lesenden werden – wenn sie bis zum Schluss dran bleiben – feststellen, dass diese Medaille (wie so oft) zwei Seiten hat.
Konsolidierungswelle rollt und rollt und rollt
Welche Folgen hat die Verkaufswelle für die Stakeholder wie Kunden, Mitarbeitende, Vertriebspartner und die Unternehmer selbst? Und, in die Zukunft geblickt, wie könnte das ERP-Angebot in der Schweiz in einigen Jahren aussehen, wenn dies so weitergeht (wovon ich ausgehe).
Bevor ich mich mit den Folgen der Konsolidierung beschäftige, will ich einen Blick auf die vier typischen, durch das emsige M&A-Geschehen der letzten Jahre entstandenen Eigentumsformen bei ERP-Firmen werfen. Da sie alle unterschiedliche Zukunftsstrategien verfolgen, sind folgedessen auch ihre Prioritäten sehr verschieden. Mit den entsprechenden Konsequenzen!
Vier typische Eigentumsformen im Überblick
1. Inhabergeführt: ERP-Firmen werden von meist technisch-begeisterten Unternehmern gegründet und in aller Regel auch von ihnen selbst geführt. Sie hatten bei Gründung eine coole Produktidee, die sie beharrlich umsetzten. Ihre Software hat sich nicht selten über einige Generationen grundlegend verändern müssen und es floss viel Herzblut, viel Fleiss und Schweiss und viel Kapital in seine Entwicklung. Für die Mehrzahl der ERP-Unternehmer ist ihre Software "ihr Baby". Die dazugehörige Firma – als Vehikel für das meist viel coolere ERP – ist bloss die notwendige "Hülle", die es für seine Entwicklung und Vermarktung braucht. Nicht mehr, und nicht weniger. Ihr Plan, sofern sie dazu einen haben, ist, das Unternehmen auf unbestimmte Zeit zu behalten und selbst zu führen. Ihre aktive Unternehmerkarriere sehen sie bestenfalls durch ihre Pensionierung in weiter Ferne beendet. Dementsprechend verfolgen sie eine klare Priorisierung bei der Entwicklung ihres Unternehmens: An erster Stelle steht immer das ERP-Produkt selbst, oft auf gleicher Höhe wie die Kunden. Dann kommen die Mitarbeitenden und danach die Vertriebspartner, da diese für eine erfolgreiche Vermarktung oft eine wesentliche Rolle spielen. Erst an fünfter Stelle spielt die Rendite in der Form einer regelmässigen Dividende eine Rolle. Der Unternehmenswert hingegen geniesst eine tiefe Priorität und läuft unter ferner liefen. Erst die Kaufanfragen, die (gut geführte) Unternehmen seit einigen Jahren schon fast im Wochenrythmus bekommen, hat vielen Unternehmern den (potenziellen) Wert ihrer Firma ins Bewusstsein gebracht.
2. Strategengeführt: Ein strategischer Käufer übernimmt eine ERP-Firma mit dem Ziel, das erworbene Geschäft weiterzuführen und damit sein eigenes Business strategisch zu erweitern; um zusätzliche Kunden, um ein neues Produkt und um ein erfahrenes Team mit zusätzlichem Know-how. Gelegentlich besteht der Plan eines Käufers auch darin, das erworbene ERP mittel- bis langfristig durch ein anderes oder neues zu ersetzen, wenn auch immer mit dem Vorhaben, die Kundenbasis zu erhalten und weiter auszubauen. Prominentes Beispiel eines strategischen
ERP-Käufers in der Schweiz ist zweifellos Boss Info. Wie sieht nun die Priorisierung eines Strategen aus? An erster Stelle stehen die Kunden und das gekaufte Produkt, dann kommen die Mitarbeitenden, gefolgt von den Vertriebspartnern (sofern vorhanden). Danach spielt die Rendite – in der Form der Ebitda-Marge – eine wichtige Rolle, da sie der Refinanzierung des ursprünglichen Kaufpreises dient. Ganz am Ende steht der Unternehmenswert, der für sich alleine kaum eine Rolle spielt. Denn ein Stratege hat so gut wie nie die Absicht, das gekaufte ERP-Unternehmen weiterzuverkaufen.
3. Aggregatorgeführt: Aggregatoren treiben, wie ihr Name bereits impliziert, die Konsolidierung innerhalb eines Marktes massgeblich voran. Ein ERP-Aggregator kauft ERP-Unternehmen und lässt diese selbständig weiter operieren. Dazu übernimmt er das erfahrene und bestehende Führungsteam, da er selbst wenig entsprechenden Ressourcen vorrätig hat. Erfahrungsgemäss wollen Aggregatoren das auch mit den verkaufenden Unternehmern machen, was aber regelmässig schlecht gelingt. Welcher Unternehmer möchte schon zum Angestellten "degradiert" werden? Strategisch werden die gekauften ERP-Firmen im Portfolio der Aggregatoren in aller Regel von der Spitze aus gelenkt. Typische in der Schweiz aktive Software-Aggregatoren sind beispielsweise Forterro (Käufer von ProConcept, Myfactory und Proffix) oder Volaris, welches von sich sagt, dass es ein einmal gekauftes Unternehmen nie mehr verkaufen wird ("buy and hold forever"). Wie sieht nun die Prioritätenliste eines Aggregators aus? An erster Stelle steht die Rendite des zugekauften Unternehmens. Die beiden Stellhebel dazu sind Kostensenkungen und die Steigerung des Ertrags mit den bestehenden Kunden. Die Rendite-Steigerung führt zur zweiten Priorität und dem eigentlichen Ziel: Wertsteigerung. Je nach Finanzierung des Aggregators hält dieser das gekaufte Unternehmen einige Jahre. Danach sollte er es zu einem Mehrfachen des selbst bezahlten Kaufpreises weiterverkaufen, will er die Erwartungen seiner Investoren befriedigen. An dritter Stelle stehen die Mitarbeitenden, die der Aggregator mangels eigener Fachleute dringend benötigt. Zumal er selbst mehr Finanz- als ERP-Experte ist. Produkt und Kunden folgen prioritätsmässig am Schluss. Sie sind vielmehr Mittel zum Ziel, das Unternehmensportfolio wertmässig zu steigern.
4. Private-Equity-geführt: Private Equity-Unternehmen (PEs) funktionieren vergleichbar mit den Aggregatoren. Mit den beiden Unterschieden, dass sie sich noch konsequenter auf die Finanzergebnisse fokussieren und daher die Unternehmen in ihrem Portfolio als reines Finanzinvestment verstehen. Zudem spezialisieren sie sich fast nie auf einen Unternehmenstyp – zum Beispiel ERP-Hersteller – sondern bauen gemischte Portfolios auf. Ihre Prioritätenreihenfolge ist: An erster Stelle steht Unternehmenswert(steigerung) inklusive Rendite, alles andere steht hinten an. Da sie sich über Fonds mit einer klar definierten Laufzeit finanzieren, werden die Portfolio-Unternehmen auch rasch (oft nach 5 Jahren) wieder verkauft werden müssen.
Die Unternehmensentwicklung bei Inhaber- und Strategen-geführten ERP-Häusern ist langfristig und auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerichtet, wohingegen diejenige bei Aggregatoren und PEs einer mittelfristigen Perspektive folgt und auf die Steigerung des Unternehmenswerts zielt. Diesen Schluss kann man aus ihren Prioritäten glasklar ziehen. Und das hat logischerweise folgende Konsequenzen für die Stakeholder.
Welche Konsequenzen für welchen Stakeholder?
Kunden: Kunden fahren bei inhaber- und strategiegeführten Eigentümern meist am besten. Ihnen und dem Produkt gilt die höchste Aufmerksamkeit, nicht selten sogar bis zur totalen Selbstaufgabe des Anbieters. Da Unternehmer fast immer Angst davor haben, Kunden zu verlieren, fahren sie meist auch eine moderate Preispolitik. Bei PE- und Aggregatoren-geführten ERP-Firmen sind die Kunden primär Ertragsbringer und werden daher nicht selten "gemolken". Da ein ERP naturgemäss einen hohen Lockin-Effekt hat, sind Finanzinvestoren daran ganz speziell interessiert. Kommt hinzu, dass die Konsolidierung im ERP-Markt auf lange Sicht zwingend weniger Wettbewerb, weniger Auswahl für Kunden und in der Folge höhere Preise bringen wird.
Mitarbeitende: Mitarbeitenden kann es bei allen Eigentümern gut gefallen – oder auch nicht. Dringend benötigt werden sie ohnehin und sind somit auch nur schwer zu ersetzen. Haben sich ein Software-Entwickler oder eine ERP-Beraterin ganz bewusst für ein inhabergeführtes KMU mit familiärer Kultur entschieden, dann wird es ihm pder ihr natürlich nach einem Verkauf an einen PE weniger gut passen, auch wenn dort möglicherweise professioneller gearbeitet wird. Andererseits haben Mitarbeitende in den grösseren und diverseren Unternehmen der Aggregatoren und PEs oft bessere Entwicklungsmöglichkeiten und weniger Stress mit überforderten Chefs.
Vertriebspartner: Für Vertriebspartner ändert bei einem Verkauf einer ERP-Firma meist wenig. Auch sie werden nach wie vor dringend benötigt, sofern sie erfolgreich verkaufen. Einerseits werden sie die steigende Professionalität nach dem Verkauf schätzen lernen, während sie andererseits vielleicht den Verlust an Individualität und familiärer Kultur bedauern. Auf ihr Geschäftsmodell und ihren Erfolg hat dies aber wenig Einfluss.
Unternehmer: David Lauchenauer, ehemaliger Mitinhaber von Myfactory formuliert es in einem LinkedIn-Kommentar zum Proffix-Verkauf an Forterro so: "Auch für erfolgreiche Unternehmen gibt es irgendwann einen Zeitpunkt, an dem sie auf eine neue Ebene gebracht werden können, um zusätzliches Potenzial auszuschöpfen. Die Plattform von Forterro bietet sich dazu bestens an. Diesen Zeitpunkt zu erkennen, ist auch Aufgabe des Unternehmers." Damit hat er vollkommen recht. Insbesondere mit der Feststellung, dass sich ein verantwortungsvoller Unternehmer rechtzeitig um die eigene Nachfolge zu kümmern hat. Ein Verkauf an einen Finanzinvestor macht sich denn auch vor allem für die verkaufenden Unternehmerinnen und Unternehmer bezahlt. Teilweise bieten PEs und Aggregatoren doppelt so hohe Preise wie Strategen. Diesen Angeboten können verständlicherweise nur Wenige – und das nur mit superguten Gründen – widerstehen.
Am Schluss frage ich mich, wohin der ERP-Markt Schweiz in Zukunft steuert. Wie in zahlreichen anderen Wirtschaftssektoren sieht es nach einer Ansammlung weniger, grosser Anbieter aus. Davon wird jeder zwar mehrere ERP-Lösungen im Angebot führen, strategisch sind sie aber weitgehend gleichgeschaltet. Was uns wahrscheinlich vor einer Oligopol-Situation retten wird, sind die nach wie vor zahlreichen Startups, die auch im ERP-Bereich immer wieder gegründet werden. Aufgrund der hohen Finanzkraft und ihrer breiten Kundenbasis (verteilt über das ganze ERP-Portfolio) werden sich bei den Grossen Nischen auftun, die von Startups clever genutzt werden können. So ist etwa nach dem Verkauf von Proffix die Value Proposition "Ein ERP von einem KMU – wie Du" ja wieder frei. Für viele kleine und mittlere Unternehmen durchaus ein attraktiver Mehrwert, den sie bei ihrer nächsten ERP-Evaluation möglicherweise wieder weit oben auf ihre Wunschliste setzen.
Urs Prantl kreiert zukunftssichere und gesund wachsende IT-Unternehmen und begleitet ihre Unternehmerinnen und Unternehmer bei der Unternehmensnachfolge und beim Firmenverkauf. Gleichzeitig ist er Host des Podcasts Prantls 5A, in welchem die strategische Einzigartigkeit erfolgreicher IT-Unternehmen im Gespräch mit ihren Inhaberinnen und Inhabern im Dialog herausgeschält wird. Als Kolumnist äussert er auf inside-it.ch seine persönliche Meinung.