Sind die Entlassungen bei Big Tech ein Segen für lokale IT-Firmen?

18. November 2022 um 08:10
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Zehntausende von Stellen werden bei internationalen Tech-Firmen gestrichen. Wir haben Schweizer Unternehmen gefragt, ob deshalb die Zahl der Bewerbungen bei ihnen zunimmt.

In den vergangenen Wochen und Monaten haben einige prominente Namen der globalen Tech-Szene Kündigungen ausgesprochen. Bei Twitter wurde jede zweite Stelle gestrichen, Meta hat 11'000 Kündigungen ausgesprochen, Amazon will 10'000 Jobs abbauen. Daneben gab es kleinere Stellenkürzungen und Medienberichte über Einstellungsstopps und Sparmassnahmen bei Apple, Alphabet, SAP, Intel, Microsoft und weiteren.
In den USA haben laut Berechnungen von Crunchbase gut 50'000 Angestellte im Tech-Sektor ihren Job verloren. Davon profitieren nun offenbar kleine und junge Unternehmen, wie das 'Wall Street Journal' kürzlich berichtete. Für diese sei es bislang wegen der Dominanz der Tech-Giganten schwierig gewesen, gut ausgebildete Fachleute zu rekrutieren. Das habe sich jetzt geändert. "Vor ein paar Jahren hatten wir keine Chance", wird die Gründerin eines KI-Startups zitiert. "Nun können wir auswählen, wen wir einstellen wollen."
Die Diskussion der Dominanz der Tech-Firmen auf dem Arbeitsmarkt flammt auch in der Schweiz regelmässig auf. Insbesondere dann, wenn es um Kontingente für Fachleute aus Drittländern geht. Google schöpfe einen Grossteil dieses Kontingents aus, ein Startup habe praktisch keine Chance, an solche Fachleute zu kommen, so die Argumentation.
Da die US-Tech-Konzerne auch hierzulande mehr oder weniger präsent sind, stellt sich die Frage, ob junge oder kleinere Schweizer IT-Firmen von den jüngsten Entlassungswellen profitieren können.

Die kurze Antwort: Nein.

Es sei ganz grundsätzlich eine Herausforderung, geeignete Leute zu finden, insbesondere wenn es um Front- und Backend-Entwickler gehe, sagt uns Christian Fehrlin, CEO von Deep Impact. Ob sich das ändern werde, sei schwierig zu sagen, aber noch merke man nichts von den Entlassungswellen bei Big Tech. Allerdings würden ja auch noch Kündigungsfristen laufen.
Ähnlich klingt es vom Software-Startup Yokoy. Man habe noch keine Veränderungen bemerkt und werde auch nicht plötzlich mit Lebensläufen überflutet, so Yvette Swagerman, VP People bei Yokoy. Unabhängig davon, ob die Arbeitslosenquote hoch oder niedrig sei, sei es schon immer eine Herausforderung gewesen, hochqualifizierte Software-Engineers zu finden, und das werde wahrscheinlich auch so bleiben.

Aufholbedarf bei der Digitalisierung

Die Probleme bei der Rekrutierung von Fachkräften habe sich seit der Pandemie zunehmend verschärft, fügt Elisabeth Maier, CEO von Karakun, an. Der durch die Pandemie ausgelöste Digitalisierungsschub habe zu signifikanten Rekrutierungsengpässen geführt. Nach den Lockerungen der Corona-Restriktionen seien zudem vielerorts Investitionsstaus aufgelöst worden, was zu weiteren Personalengpässen "und einem annähernd vollständig ausgetrockneten Markt an qualifizierten IT-Fachkräften geführt" habe, fasst die Karakun-CEO die Situation zusammen.
Dies bestätigt uns auch Swico-Geschäftsführerin Judith Bellaiche. Die Auftragslage sei gut, gerade auch der öffentliche Sektor habe grossen Digitalisierungsbedarf. Auch wenn ein gewisser Inflationsdruck bestehe, könnten Behörden und Ämter nicht schlicht IT-Projekte sistieren.
Allerdings sei der Zufluss von Bewerbungen leicht gestiegen, so die Einschätzung von Maier. "Das hat meiner Ansicht nach nur sehr begrenzt mit Einstellungsstopps bei grossen internationalen IT-Dienstleistern zu tun, sondern auch mit den ökonomischen und politischen Unsicherheiten weltweit", sagt sie. Trotzdem sei es nach wie vor äusserst schwierig, Personal zu finden – auch ausserhalb der Schweiz.
Man spüre zwar die Entlassungswellen in den USA, erklärte Cris Grossmann, CEO des Softwareanbieters Beekeeper, aber man rekrutiere Entwickler, Sales- und Marketingleute hauptsächlich in Europa. Dass man in den vergangenen Wochen und Monaten etwas mehr Talent im Markt gesehen habe, sei eher auf Kürzungen zurückzuführen, die Startups und Tech-Firmen in der Schweiz und in Deutschland machen mussten.
Ausserdem würde bei den grossen Tech-Firmen nicht unbedingt nur technisches Personal entlassen, sondern auch Mitarbeitende aus anderen Abteilungen, wie beispielsweise dem Recruiting, ergänzt Yokoy. "Wir haben beispielsweise bemerkt, dass die Verfügbarkeit von freiberuflichen Recruitern zugenommen hat", so die HR-Verantwortliche.

Keine Entspannung in Sicht

Die Situation dürfte sich hierzulande also kaum entspannen. Dies glaubt auch Swico-Geschäftsführerin Judith Bellaiche. Es gebe keine Anzeichen auf eine Entschärfung.
Die Entlassungen in den USA würden kurzfristig nicht in die Schweiz schwappen, fügt Bellaiche an. Hierzulande betreibe Big Tech Forschungsstandorte. Meta beispielsweise arbeitet in Zürich an Mixed-Reality, ein Zukunftsthema, wie es der Konzern nennt. Auch bei den Hyperscalern gebe es noch Geschäftspotenzial, fügt Bellaiche an.
Wenn man sich in der Branche umhöre, sei klar, dass der Fachkräftemangel und damit auch die Fluktuation die Firmen beschäftige, schliesst die Swico-Chefin. Mitarbeiterbindung sei zurzeit eines jener Themen, in die Unternehmen deshalb besonders investieren.
Interessenbindung: Deep Impact ist das Mutterunternehmen unseres Verlags; Elisabeth Maier ist Kolumnistin bei inside-it.ch.

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