Thüring-Test: Das Organigramm steuert das Verhalten

8. April 2024 um 13:49
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Das Verhalten von Führungskräften strahlt nach unten aus, sagt Kolumnist Markus Thüring. Mikromanagement ist dabei eine der häufigsten "Sünden".

In Unternehmen wie auch in Projekten wird das Verhalten der handelnden Personen direkt oder indirekt durch das Organigramm und dessen Spielregeln beeinflusst. Auch wenn an der Spitze normalerweise nicht gerade eine Person mit dissozialer Persönlichkeitsstörung steht, strahlt das Manager-Gebaren "nach unten" aus in Form von Wertvorstellungen, Leistungs- und
Verhaltensmassstäben. Eine häufig anzutreffende Version unangebrachten Führungsverhaltens ist Micromanagement, oft getarnt als Hilfestellung für die Untergebenen. Das beste Mittel gegen die Angst vor Kontrollverlust ist, Vertrauen zu schenken. Allerdings braucht es Mut, sich einem gewissen Kontrollverlust auszuliefern.
Karl Marx wird das Zitat zugeschrieben: "Das Sein bestimmt das Bewusstsein". Damit bringt er zum Ausdruck, dass unser Denken und Handeln massgeblich vom gesellschaftlichen Umfeld und seinen Spielregeln beeinflusst wird. Im beruflichen
Kontext ist es vor allem die Organisationsstruktur eines Unternehmens beziehungsweise Projektes, welches das Umfeld bildet und dadurch unser
Bewusstsein und Verhalten steuert. In einer früheren Kolumne habe ich zum Thema Projektorganisation geschrieben, dass die Gestaltung einer effizienten Teamstruktur eine der wichtigsten Aufgaben der Projektleitung ist, weil damit Aufgaben und Verantwortlichkeiten festgelegt werden.
Mein heutiger Beitrag soll das Thema Organisationsstruktur um den wichtigen Aspekt des persönlichen Verhaltens ergänzen. Die Struktur – sei es eines Unternehmens oder eines Projekts – steuert nicht nur das Verhalten der einzelnen Akteure an der Spitze, sondern beeinflusst auch dasjenige ihrer Unterstellten. Das heisst, das Verhalten der Obrigkeit strahlt nach unten auf ihren gesamten Verantwortungsbereich aus und bestimmt den Massstab für akzeptiertes Verhalten.

Der Extremfall: "Dissoziale Persönlichkeitsstörung"

Eine solche Störung umfasst Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen; fehlendes Schuldbewusstsein sowie geringes Einfühlungsvermögen gegenüber anderen; eine niedrige Schwelle für aggressives Verhalten, geringe Frustrationstoleranz sowie mangelnde Lernfähigkeit aufgrund von Erfahrung.
Sollte sich an der Spitze eine Person mit solchen Eigenschaften befinden, so werden sich zumindest Spuren dieses Verhaltens über kurz oder lang in der gesamten Organisation finden lassen.
Zwei wesentliche Gründe dafür sind
  • a) dass Vorgesetzte bevorzugt Mitarbeitende mit ähnlichen, das heisst kompatiblen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen rekrutieren und
  • b) dass die Belegschaft die von den Managern vorgelebten Verhaltensweisen beobachtet und sich dem Regime entweder anpasst oder die Organisation bei passender Gelegenheit verlässt (Der sogenannte "Luzifer-Effekt").
Altbundesrat Kaspar Villiger beschrieb die Folgen daraus in einem NZZ- Gastkommentar über Demokratien und Autokratien mit deutlichen Worten: "Selbstüberschätzung verleitet die Egomanen zu zahllosen Fehlern. Sie
eliminieren Querdenker und umgeben sich mit Ja-Sagern, was zu verzerrten Wahrnehmungen der Realität führt". Mehr als genug Beispiele für ethisch-moralisch fragwürdiges Verhalten an der Spitze lassen sich in der globalen Politik, im Spitzensport und auch in der jüngeren Schweizer Wirtschaftsgeschichte finden.

Der Klassiker: Micromanagement

Die harmlosere, aber für die Projektpraxis wichtigere Variante fragwürdigen Führungsverhaltens zeigt sich beim Micromanagement. Dieses Gebaren ist in der Regel entweder auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zurückzuführen (z.B. Angst vor Kontrollverlust), kann ihren Ursprung aber auch in der Organisationsstruktur haben.
Bei einem Bereichsvorgesetzten mit mehreren Dutzend Mitarbeitenden, aber nur einer winzigen Führungsspanne von vier Direktunterstellten mag sich nachmittags ein Gefühl von Langeweile einstellen. Weil sich laut Parkinsonschem Gesetz die Arbeit aber in dem Mass ausdehnt, wie Zeit zur Verfügung steht, kann es durchaus sein, dass sich gelangweilte Vorgesetzte in die Aufgabendetails vertiefen, die eigentlich weit unterhalb ihrer Zuständigkeit liegen.
In der Praxis zeigt sich dies möglicherweise mit einer persönlichen Teilnahme des Vorgesetzten an Projektmeetings, für die eigentlich ProjektleiterInnen aus dem Team seiner Direktunterstellten zuständig sind. Wenn sich der Vorgesetzte überdies aus persönlichem Interesse oder mit spezifischen Fachkenntnissen in die Projektmeetings einbringt, wird ihn die Projektleiterin statusbedingt kaum bremsen können. Noch schlimmer ist, wenn die Teammitglieder auch unausgegorene Ideen des Vorgesetzten zum Nennwert nehmen und dadurch indirekt die Autorität der Projektleitung untergraben wird.
Egal welches Führungsverhalten, es strahlt immer nach unten aus. Im vorliegenden Fall wird der Vorgesetzte von seinen vier Direktunterstellten denselben Grad an Detailkenntnis erwarten, die er sich selbst in den Projektmeetings zwei Stufen unterhalb seiner Hierarchiestufe angeeignet hat.
Dies setzt diejenigen TeamleiterInnen unter zusätzlichen Druck, welche wegen der winzigen Führungsspanne ihres Vorgesetzten selbst mehr als 15 Mitarbeitende zu führen haben. Auch sie werden deshalb gezwungenermassen an den Projektteamsitzungen teilnehmen.
Ausstrahlen nach unten bedeutet im konkreten Fall, dass eine Projektleiterin zur Statistin degradiert wird, wenn ihre beiden nächsthöheren Vorgesetzten als ständige "Gäste" in den Teamsitzungen mitwirken und eigentlich "nur helfen" wollen. Das
Gegenteil von gut ist eben gut gemeint …
Vertrauen als Mittel gegen Kontrollverlust
Im Unterschied zu Aufgaben und Kompetenzen lässt sich Verantwortung nicht delegieren. Altbundesrat Christoph Blocher brachte es in der NZZ einst auf den Punkt: "Worin besteht denn diese Verantwortung? Sie besteht darin, die Konsequenzen für Erfolg oder Nichterfolg persönlich zu tragen. Das gilt ausdrücklich auch dann, wenn man am Misserfolg keine Schuld trägt. Deshalb sind Positionen mit höherer Verantwortung auch besser bezahlt".
Es kann deshalb für Vorgesetzte nur darum gehen,
  • a) In ihrem Verantwortungsbereich effiziente Strukturen zu schaffen,
  • b) diese mit den bestmöglichen MitarbeiterInnen zu bestücken und
  • c) ihnen Vertrauen zu schenken, anstatt Micromanagement zu betreiben.
Oder wie es Kaspar Villiger in einem Nachruf auf den verstorbenen Unternehmer Ulrich Bremi einst formulierte: Wenn er [Bremi] Erfolg gehabt habe, habe er vorher Vertrauen geschenkt, und immer, wenn er einen Misserfolg gehabt habe, habe er vorher auch Vertrauen geschenkt. Er gedenke diese Methode nicht zu ändern.
Beim Delegieren ist es ähnlich wie in der Liebe: Es geht um Kontrollverlust und es braucht Mut, sich darauf einzulassen, indem man sich ausliefert.
Über den Autor
Im "Thüring-Test" analysiert Markus Thüring quartalsweise IT-Projekte und deren Probleme. Der pensionierte Grossprojektleiter hat in seiner 40-jährigen Karriere für grosse Schweizer Finanzinstitute als Business Analyst, Projektleiter und Program Manager gearbeitet. Vor seiner Pensionierung leitete er Projekte mit zweistelligen Millionenbudgets. Im letzten Herbst ist sein Buch "Projektmanagement für Profis" im Omnino Verlag erschienen. Es geht darin vor allem um Hinweise auf die gröbsten Fehler und mögliche Gegenmassnahmen in IT-Projekten. Er äussert hier seine persönliche Meinung.


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