"Schatz, reichst du mir mal das Saipan?" Für mich klingt das Wort "Saipan" nach einer scharfen, exotischen Gewürzmischung, mit der man ein Nudelgericht ordentlich aufpeppen kann. Dass ich meiner Intuition offenbar nicht immer trauen kann, lernte ich diese Woche.
Saipan ist eine Insel unter US-Herrschaft irgendwo im Nirgendwo des Pazifischen Ozeans, auf der wohl – und das ist bereits Ende Juni keine besonders steile These mehr – der Gerichtsprozess des Jahres stattgefunden hat.
Assange macht Deal mit US-Justiz
Was ist geschehen? Auf Saipan wurde Julian Assange von der US-Richterin Ramona Mangola schuldig gesprochen. Fünf Jahre Haft auferlegte sie ihm. Doch da er diese zuvor bereits im Londoner Hochsicherheitsknast Belmarsh abgesessen hatte, ist Assange
seitdem ein freier Mann. Vorausgegangen war dem "Freispruch" ein Deal, den Julian Assange mit der US-Justiz überraschend geschlossen hatte. Bis vor kurzem hatte das Land noch auf seine Auslieferung gepocht.
Woher dieser Sinneswandel kam, ist unklar. Ich könnte mir vorstellen, dass es mit dem amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich zusammenhängt. Der Reporter des 'Wall Street Journal' sitzt seit über einem Jahr in Russland in Haft – und praktisch gleichzeitig mit dem Deal zwischen Assange und Washington beginnt in Moskau der Prozess gegen den Journalisten. Russland wirft ihm vor, er habe für die CIA gearbeitet. Er selbst, sein Arbeitgeber und die US-Regierung bestreiten das, wie es im '
Tages-Anzeiger' heisst.
Assanges Fall gleicht einem weiteren
Beide Fälle gleichen sich: Nur sind in einem Fall (Assange) die Vereinigten Staaten das "Opfer" von geleakten Dokumenten; und im anderen Fall (Gershkovich) der "Täter". Wie hätten die USA glaubwürdig die – berechtigte – Freilassung Gershkovichs fordern und gleichzeitig Assange für praktisch dasselbe Vorgehen verhaften lassen können? Ich schrieb letzte Woche
über das scheinheilige Verhalten der USA – gut, dass sich mit Assanges Freispruch kein weiteres Kapitel hinzufügen lässt.
Assange hat es verdient, ein freier Mann zu sein. Es ist schade, dass dafür ein teilweises Schuldeingeständnis seinerseits und ein Deal mit einem Staat notwendig war, aber aus Assanges Sicht ist das nachvollziehbar. Was ihm zuvor widerfahren war, nämlich ohne ein Urteil eingesperrt zu sein, ist eines Rechtsstaates unwürdig.
Kontrolle der Mächtigen ist Basis einer Demokratie
Ich bin der Meinung, dass Journalistinnen und Journalisten zu jeder Zeit und ohne Angst vor möglichen Repressionen Dokumente von öffentlichem Interesse publizieren dürfen. Investigativer Journalismus ist nicht mehr möglich, wenn keine geheimen Informationen mehr veröffentlicht werden. Die Kontrolle der Mächtigen durch die vierte Gewalt im Staat ist die Basis für eine funktionierende Demokratie. Wenn Staaten diese ausbremsen, schaffen sie sich selbst ab.
Julian Assange und Evan Gershkovich sind beide Helden. Einer von beiden darf nun in Freiheit leben. Der zweite darf es hoffentlich auch bald.