Linkedin ist mit Abstand mein liebstes soziales Netzwerk. Facebook und Instagram habe ich vor Jahren gelöscht, weil ich mit den Datenschutzpraktiken von Mutterkonzern Meta nicht einverstanden war. Auch von Twitter habe ich mich verabschiedet – zwar schweren Herzens, aber mit einem guten Gefühl. Die vorherrschende Sprache, die Themen und die fehlende Moderation bei Musks Netzwerk sind für mich unerträglich geworden. Und weil dafür bis dato ein vernünftiger Nachfolger fehlt (
Bluesky ist es, noch?, nicht), bleibt halt nur noch Linkedin übrig.
Aber das nicht nur schlecht, im Gegenteil: Tatsächlich bringt mir mein Linkedin-Netzwerk beachtlichen Mehrwert im Berufsalltag. Es hilft mir, mich mit der Branche zu verknüpfen und auszutauschen, spannende Kontakte zu knüpfen und von Themen oder Projekten zu erfahren, die mir sonst verborgen geblieben wären. Und das eine oder andere Mal erzählt mir jemand auch ein Geheimnis, über das wir dann exklusiv schreiben dürfen. (Danke dafür!)
Alle sind "thrilled" und haben "amazing chances"
Jetzt müsste ein "Aber" kommen, denken Sie? Sie haben recht: In letzter Zeit herrscht zumindest in meiner Timeline regelrechte "Thrilleritis". Praktisch in jedem zweiten Posting ist jemand "thrilled" und zwar ganz egal, weswegen. Ein neuer Job? Thrilled! Ein Kürslein, das ansteht? Thrilled! Ein Referat, das bald gehalten wird? Natürlich: Thrilled! Und manches davon ist dann selbstverständlich in reinstem Denglisch eine "amazing chance".
Das "Thrilled"-sein findet dabei auffälligerweise meistens vor dem "Event" an sich statt, beschreibt also eine Art Vorfreude. Wer auf etwas "Berichtenswertes" zurückblickt, schreibt in seinen Linkedin-Postings jeweils von "Ich durfte": "Ich durfte einer Schar von potenziellen Neukunden erzählen, wie grossartig unser Produkt ist", "ich durfte ein Zertifikat für meine Ausbildung zum Agile-Spezialist entgegennehmen" (was jeder darf, der den Kurs bezahlt) und "ich durfte die Firma Soundso auf ihrem Weg in die Cloud begleiten". Meistens wurde bei dieser Gelegenheit gleich noch jemand "empowered". Grossartig, nicht?
"Can't wait" auf die Kursbestätigung
Was jetzt noch fehlt, ist Phase 3: die Zukunft. Diese ist natürlich immer "bright" und "shiny" und auf Linkedin kann sie nicht schnell genug kommen. Das übersetzen die meisten Nutzerinnen und Nutzer dann aber in ihren Postings in "can't wait to see", "... to be part of…" und "... to help to…". Das wird dann vom eingebauten Übersetzungstool von Linkedin natürlich wieder rückübersetzt, aber das macht nichts!
Bin ich ein Bünzli, wenn ich das Marktgeschrei für übertrieben halte? Kann sein. Und vielleicht bin ich als Journalist besonders allergisch auf diese Art Eigenmarketing. Aber ich bin überzeugt: Auch bei Linkedin ist weniger unter dem Strich mehr.
Unser Berufsleben ist selten ein Thriller
Wir alle dürfen "thrilled" sein, aufgeregt und uns über etwas freuen – das ist sogar sehr wichtig. Noch wichtiger ist es aber, seine Gefühle wahrheitsgetreu zu äussern. Denn das Berufsleben ist in den meisten Fällen kein Thriller, sondern einfach nur normal. Ich plädiere deshalb für mehr "chill" statt "thrill".