Man stelle sich vor, alle Gäste des öffentlichen Verkehrs würden dauernd durchsucht: Ungefragt würde in ihre Handtaschen, Rucksäcke, Koffer und Hosensäcke gegriffen, um sie nach Diebesgut durchzuwühlen. Denn es könnte sein, dass sich unter diesen Fahrgästen ein Dieb befindet. Und weil Diebe ihre Beute unter anderem im Zug, Tram oder Bus mitführen, müssten sämtliche Passagiere auf allen Strecken und zu allen Tageszeiten ununterbrochen gefilzt werden. Absurd, oder?
Die EU-Chatkontrolle will genau das: eine dauernde, undifferenzierte und anlasslose Überwachung sämtlicher Chatnachrichten und E-Mails aller Menschen. Unter dem Titel der Bekämpfung von Kinderpornografie werden Anbieter gezwungen, die Inhalte ihrer Nutzer automatisch zu kontrollieren und bei einem Verdacht einer EU-Zentrale zu melden. Der entsprechende Gesetzesentwurf wurde im Mai vorgelegt, und nun muss sich das EU-Parlament darüber beugen. Ein grosser Aufschrei aus der Politik war nicht zu erkennen, auch in der Schweiz nicht. Das liegt daran, dass die Tragweite dieser Chatkontrolle hierzulande weitgehend unbekannt ist, obwohl sie uns wohl oder übel auch treffen wird.
Bundesrat will – natürlich – beobachten
Zwar äusserte sich der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte mit deutlichen Worten gegen die geplante Chatkontrolle, und von Netz- und Zivilorganisationen kam scharfe Kritik gegen das Vorhaben. Aber im Schweizer Parlament war das Thema neu, als ich es im Sommer
aufbrachte und den Bundesrat fragte, ob er Kenntnis davon hatte und wie er diese Chatkontrolle einschätzt. Der Bundesrat bestätigte, dass eine solche Massenüberwachung sowohl gegen die Bundesverfassung als auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstösst und mit dem Schweizerischen Verständnis von Privatsphäre nicht zu vereinbaren ist. Und was will er nun dagegen tun? Das, was er immer tut, wenn sich ein Desaster ankündigt: beobachten.
Es sei noch nicht klar, inwieweit Nutzerinnen und Nutzer in der Schweiz von der geplanten Chatkontrolle betroffen seien. Aber ein Blick in den Gesetzesentwurf reicht aus: Sobald Anbieter in der EU tätig sind, dürften sie unter die gesetzliche Pflicht fallen, ihre Nutzer zu überwachen. Es war in den letzten Jahren wiederholt festzustellen, dass EU- oder auch US-Regulierung eine extraterritoriale Wirkung entfalten. Denn die Digitalisierung kennt keine Landesgrenzen – es ist ihr eigen, dass sie Menschen über alle Kontinente hinweg verbindet.
Verschlüsselte Nachrichten müssten entschlüsselt werden
Abgesehen von den bedenklichen Verletzungen unserer Grundrechte birgt die Chatkontrolle noch ein weiteres Risiko, nämlich die Sicherheit. Zwar ist noch nicht bestimmt, mit welchen technischen Methoden die Überwachung der Chatnachrichten erfolgen soll. Aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie eine Entschlüsselung von derzeit verschlüsselten Nachrichten erforderlich machen würde. Das wäre das Ende der vertraulichen Nachrichtenübermittlung – im privaten wie im geschäftlichen Verkehr. Wie die dedizierte EU-Zentrale die sagenhaften Mengen von Nachrichten überprüfen will, bleibt schleierhaft. Aber eine kleine Milchbüechlirechnung hilft bei der Vorstellung des Mengengerüsts: Alleine auf Whatsapp werden weltweit täglich 1 Milliarde Nachrichten verschickt. Wenn nur 1 Promille davon wegen auffälligen Inhalts im Netz hängen bliebe, so wären das 1 Million Nachrichten, die überprüft werden müssten – pro Tag!
Einig sind sich alle: Die Bekämpfung von Kinderpornografie ist ein richtiges und wichtiges Ziel. Aber der Zweck heiligt die Mittel nicht, und die systematische, flächendeckende und dauerhafte Überwachung von unschuldigen Menschen ist völlig unverhältnismässig und erschüttert das Vertrauen in die Digitalisierung. Diese soll nämlich im Dienst der Menschen stehen und grundsätzlich einen Nutzen bringen. Missbraucht man nun digitale Kommunikationskanäle für die Dauerkontrolle der eigenen Bürgerinnen und Bürger, so wendet man die Digitalisierung gegen die Menschen an. Dies ist eine Grenzüberschreitung, gegen die wir uns wehren müssen.
Wie geht es weiter? Um den Bundesrat aus seinem Beobachtungsposten herauszuholen, werde ich ihn noch in der laufenden Herbstsession mit einem Vorstoss daran erinnern, dass er als Regierungsbehörde für unseren Schutz gegen Grundrechtsverletzungen zuständig ist.
Über die Kolumne:
Jeden Monat äussern sich Politikerinnen und Politiker sowie digital-politisch Engagierte aus allen Lagern zum Geschehen in Bern und in den Kantonen. Nächsten Monat schreibt Matthias Michel, Ständerat des Kantons Zug, die
"Parldigi direkt"-Kolumne.