Corona: Unfreiwilliges Pilotprojekt für Justitia 4.0

11. Mai 2020 um 13:37
  • e-government
  • coronavirus
  • schweiz
  • workplace
image

Für das Bundesgericht bedeutet die Corona-Krise einen ungeplanten Digitalisierungsschub, von dem auch das Projekt der papierlosen Schweizer Justiz profitieren soll.

Bis 2026 soll die Schweizer Justizlandschaft weitgehend papierlos funktionieren, wofür im Frühjahr 2019 das Projekt Justitia 4.0 gestartet worden ist. In einem Interview mit den Zeitungen von 'CH-Media' hält der Präsident des Bundesgerichts, Ulrich Meyer, nun fest, dass die Coronavirus-Krise zeige, wie notwendig eine verstärkte Digitalisierung sei. Sei Justitia 4.0 bisher wünschbar gewesen, habe sich nun die Notwendigkeit des Projekts gezeigt, so Meyer.
Zwar seien schon im Dezember 2019 alle Bundesrichter, die es gewünscht hätten, sowie der Informatikdienst und die Mitglieder des Generalsekretariats mit Laptops ausgerüstet worden. So hätten die Richter auch in der Ausnahmezeit einen Fernzugriff auf das System. Doch "die Krise löst einen Entwicklungsschub für die Digitalisierung am Bundesgericht aus", sagte der Bundesgerichtspräsident. Selbst dann, wenn aus staatspolitischen Gründen keine Urteile im Homeoffice gefällt würden, wie er anfügt.
Nur in der Kanzlei und bei den Gerichtsschreibern sei man noch nicht ganz so weit wie bei der Ausrüstung der Richter gewesen. Hierfür seien 30 zusätzliche Laptops für Schlüsselpersonen konfiguriert und abgegeben worden. Zudem habe man "kurzfristig den sicheren Zugriff auf das berufliche Mailsystem von zu Hause eingerichtet. Als Sofortmassnahme haben wir schliesslich rund 300 USB-Sticks angeschafft und verteilt, um den sicheren Datenaustausch bei Heimarbeit auf den privaten Computern zu ermöglichen", so Meyer

Schnell dezentralen Justizbetrieb aufgezogen

Auf der Webseite von Justitia 4.0 wurde denn auch darüber informiert, dass sich seit Mitte März 2020 praktisch die gesamte Schweizer Justiz im Ausnahmezustand befinde und damit in einem "unfreiwilligen Pilotprojekt". Die Risiken der Corona-Krise "haben von den betroffenen Behörden verlangt, innert weniger Tage einen dezentralen Justizbetrieb aufzuziehen", schrieb Jacques Bühler, Stellvertretender Generalsekretär am Bundesgericht und Co-Projektleiter Justitia 4.0. Und die Situation zeige, "wie fit die Schweizer Justiz derzeit für den digitalen Wandel ist".
In einem kurzen Youtube-Beitrag führt die Bezirksrichterin Nora Jeker vom Bezirksgericht Zürich aus, welche Konsequenzen die getroffenen Massnahmen für die hiesige Justiz haben. Unter anderem spricht sie den Aktentransport an, da diese für die Arbeit im Homeoffice eingescannt werden müssen, oder die Grenzen und Möglichkeiten von Videokonferenzen.
In einer Mitteilung von Ende April 2020 hatte Bühler mitgeteilt, dass im aktuellen Pandemie-Kontext die Ausweitung von Homeoffice eine der Hauptmassnahmen gewesen sei. Dies habe vorausgesetzt, dass alle Mitglieder und alle betroffenen Mitarbeitenden der Gerichte und Staatsanwaltschaften über Laptops, eine elektronische Identität und den Zugriff auf Gesetzes-, Rechtsprechungs- und Rechtsliteraturdatenbanken verfügen.
Bühler weist zudem darauf hin, dass für Einvernahmen via Videokonferenz eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist, damit sie überhaupt rechtswirksam sind. Dies sei für strafrechtliche Verfahren zwar schon gegeben gewesen, sei für zivilrechtliche Verfahren aber erst Mitte April dringlich verabschiedet worden.

"Projekt teilweise ins Stocken geraten"

Auf die Frage, welche Konsequenzen die Massnahmen in der Corona-Krise für das Gesamtprojekt Justitia 4.0 haben wird, nennt Bühler positive wie negative Auswirkungen. Positiv sei, hält er zunächst einmal fest, dass "die Akzeptanz für den Rückgriff auf digitale Tools in der Krise gewachsen ist". Durch den vermehrten Rückgriff auf elektronische Medien im Justizalltag sei der unmittelbare Nutzen der Digitalisierung für die Beteiligten erbracht worden. Allenfalls vorhandene Bedenken und Widerstände seien durch die praktische Arbeit reduziert, wenn nicht gar beseitigt worden.
Negativ habe sich die Krisenzeit allerdings in den Arbeitsgruppen des Justitia-4.0-Projekts bemerkbar gemacht. Denn diverse Projektbeteiligte aus der Justiz seien durch dringliche Arbeiten in den Gerichten absorbiert gewesen. "Die Weiterentwicklung des Projekts ist dadurch teilweise ins Stocken geraten", so Bühler.
Verzögern werde sich ausserdem der Start der Vernehmlassung zum neuen Bundesgesetz über die elektronische Kommunikation mit Gerichten und Behörden (BEKG). Wegen Corona ist der Start vom Bundesrat vom Sommer auf frühestens Herbst 2020 verschoben worden.
Bühler begrüsst, dass aufgrund der Krise so schnell Hürden bei der digitalen Justizarbeit gefallen sind. Allerdings kann er als Co-Projektleiter von Justitia 4.0 noch nicht abschätzen, welche Auswirkungen die Corona-bedingten Verzögerungen auf den Zeitplan des Projektes haben. Offen ist damit auch, ob die Schweizer Justiz wie aktuell geplant ab 2026 weitgehend papierlos arbeiten kann.
Update (2. Mai 2020): Der Artikel wurde unter dem Titel "Projekt teilweise ins Stocken geraten" um eine aktuelle Stellungnahme von Jacques Bühler ergänzt.

Loading

Mehr zum Thema

image

Bund will zentrales Tool für das Information Security Management

Zwischen Xplain-Hack und ISG herrscht emsiges Treiben in Bern: 2024 sollen vorerst EFD und VBS ein neues ISMS-Tool für ihre "Kronjuwelen" erhalten.

publiziert am 29.9.2023 5
image

Ständerat zu Digitalisierung: Nein, danke!

Während Bundesrat und Nationalrat die Digitalisierung der Verwaltung vorantreiben wollten, lehnt sie die kleine Kammer ab.

publiziert am 29.9.2023
image

Podcast: Wird Justitia 4.0 zum neuen EPD?

Der Bund will das Justizwesen digitalisieren, macht aber ähnliche Fehler wie beim E-Patienten­dossier. In dieser Episode blicken wir auf die Anfänge zurück und erklären, wieso die Arbeit am Projekt schon begann, bevor die Rechts­grundlage dafür bestand.

publiziert am 29.9.2023
image

Thurgau wünscht sich Zentralisierung des E-Patientendossiers

Dass für das EPD zahlreiche Stamm­ge­meinschaften zugelassen sind, ist laut Thurgauer Regierung ein Fehler. Auch die kantonalen Gesundheitsdirektorinnen sprechen sich für eine Zentralisierung aus.

publiziert am 28.9.2023