Parlamentarier setzen sich im Nationalrat für ein Verfassungsrecht auf "digitale Integrität" ein, Rechtsexperten sehen den Vorstoss kritisch. Wir haben nachgefragt.
Zum Ende der vergangenen Herbstsession wurde in Bern eine parlamentarische Initiative eingereicht. Diese verlangt die Aufnahme des "Rechts auf digitale Integrität" in die Bundesverfassung. "Die Entwicklung der Gesellschaft und insbesondere die massenhafte Einführung neuer Technologien bringt neue Fragen mit sich, die bei der Verabschiedung unserer Verfassung noch nicht oder nur am Rande präsent waren", heisst es in der Begründung. Technologien wie Big Data, KI und soziale Netzwerke würden Chancen und Wertschöpfung bringen, aber auch Möglichkeiten bieten, die Integrität der Bevölkerung zu beeinträchtigen.
Samuel Bendahan.
Eingereicht hat die Initiative Nationalrat Samuel Bendahan (SP/VD). Mitunterzeichnet haben sie 30 Ratsmitglieder aus allen politischen Parteien. Im Kapitel "Grundrechte" der Verfassung soll der Artikel 10.2 angepasst werden. Bisher lautete dieser: "Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit." Neu soll der Zusatz "digitale" Unversehrtheit bzw. Integrität hinzukommen.
"Die Daten über uns müssen uns gehören und wir müssen eine gewisse Kontrolle über sie haben. Eine missbräuchliche Verwendung dieser Daten ohne unsere Zustimmung oder gegen unsere Interessen darf nicht zugelassen werden", erklärt Bendahan zum Kernanliegen gegenüber inside-it.ch. "Die Initiative zielt darauf ab, einen Rahmen für den Schutz der persönlichen Freiheit auch im digitalen Raum zu setzen und diesen Schutz als Grundrecht zu betrachten", sagt Mitunterzeichnerin Simone de Montmollin (FDP/GE). Es gehe darum, grundlegende Fragen zu klären: "Wann beginnt das Recht auf Schutz? Die digitale Identität beginnt oft schon vor der Geburt. Und wann endet es? Kann es einen digitalen Tod geben?"
Was bedeutet "digitale Integrität"?
Gerhard Andrey.
Doch was versteht man unter "digitaler Integrität"? Mitunterzeichner und Parldigi-Mitglied Gerhard Andrey (Grüne/FR) definiert diese so: "Der Begriff ist im Zusammenhang mit dem bereits bekannten Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit vergleichbar. Es geht also darum, dass wir Menschen uns im virtuellen Raum genauso selbstbestimmt, unversehrt und unbehelligt bewegen können, wie uns das die Grundrechte in der physischen Welt garantieren resp. garantieren sollten." Das Recht auf digitale Integrität sollte zu den Grundrechten gehören, erklärt Samuel Bendahan. Eine Verletzung dieses Rechts könne "sehr schwerwiegend" sein. "Je nachdem, wie die Daten verwendet werden, kann es uns extrem stark und dauerhaft schaden, ebenso wie eine Verletzung unserer körperlichen Unversehrtheit."
Florent Thouvenin.
Für Florent Thouvenin, Professor für Informations- und Kommunikationsrecht an der Universität Zürich, ist hingegen "völlig unklar", wie der Begriff definiert werden soll: "Die Verfassung schützt bereits die physische und psychische Integrität aller Bürgerinnen und Bürger. Inwiefern sich die digitale Integrität davon unterscheidet, ist unklar. Auch im digitalen Umfeld geht es am Ende – wenn überhaupt – um eine Beeinträchtigung der psychischen Integrität, zum Beispiel durch das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, und nicht um eine ganz neue, separat digitale Integrität", schreibt er auf unsere Anfrage.
In Kantonen laufen ähnliche Vorstösse
Simone de Montmollin.
Die parlamentarische Initiative im Nationalrat nimmt auch Bezug auf einen Vorstoss im Kanton Genf. Dort hat der Grosse Rat Ende September eine Vorlage der FDP-Fraktion angenommen, welche das Recht auf digitale Integrität in der Kantonsverfassung verankern will. Eine Volksabstimmung wird demnächst darüber entscheiden. Andere Kantone hätten ähnliche Vorschläge unterbreitet, so die Genferin Simone de Montmollin. "Angesichts der Tatsache, dass digitale Daten keine territorialen und schon gar keine kantonalen Grenzen kennen, ist diese Thematik ihrem Wesen nach von nationaler oder gar internationaler Bedeutung."
Martin Steiger.
Wie Rechtsprofessor Thouvenin findet auch Martin Steiger, Jurist und Sprecher der Digitalen Gesellschaft, dass der bestehende Artikel 10.2 der Bundesverfassung eigentlich genüge. Der Persönlichkeitsschutz sei damit gewährleistet. Hingegen berufe sich das Bundesgericht bislang "mit äusserst schwachem Fundament auf ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung, ohne dass dieses relevant im Datenschutzgesetz und anderen einschlägigen Erlassen zu finden ist". Wenn das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ernst gemeint sei, könnte es mit einer Anpassung von Artikel 13 der Bundesverfassung ("Schutz der Privatsphäre") konkretisiert werden.
Eigentlich genüge das Datenschutzgesetz
"Ich denke nicht, dass durch eine Ergänzung der Verfassung etwas zu gewinnen ist. Das ist reine Symbolpolitik", betont Thouvenin. Das Datenschutzgesetz (DSG) würde bereits entsprechende Anliegen aufnehmen. "Soweit es um die Bearbeitung von Personendaten geht, lässt sich über das sehr offen gefasste DSG vieles erreichen." Das gelte insbesondere für die Transparenz der Datenbearbeitung und die Gewährleistung von Datensicherheit. Die gesetzlichen Grundlagen seien hier vorhanden, es fehle nur an der Umsetzung in der Praxis.
Ziel der Debatte: Die Bundesverfassung.
Nationalrat und SP-Vizepräsident Bendahan ist klar der Meinung, man müsse ein Verfassungsrecht hinzufügen, "das Gesetzgebungsprozesse begleiten kann, auch in Abhängigkeit vom Fortschritt der technologischen Entwicklungen". Das aktuelle Datenschutzrecht garantiere die digitale Integrität "nicht vollständig". "Heute haben die Menschen trotz dieses Rechts aus mehreren Gründen keine ausreichende Kontrolle über ihre Daten." Das Recht messe Daten derzeit keinen wirklichen Wert bei, betont auch FDP-Nationalrätin De Montmollin. "Ihr Diebstahl oder Verlust führt nur selten zur Feststellung eines Schadens auf zivilrechtlicher Ebene. Die Verankerung eines Grundrechts auf digitale Integrität könnte dies korrigieren und dazu führen, dass digitale Daten als ein Gut anerkannt werden, welches jedem Internetnutzer gehört."
Solche Fragen sollten "auf Ebene des Gesetzes geregelt werden, nicht in der Verfassung", meint Professor Thouvenin, eine mögliche Ergänzung der Verfassung schade aber auch nichts. Doch: "Wichtig wäre, dass wir uns Gedanken machen, was die echten, mit der Digitalisierung verbundenen Probleme für die Bürgerinnen und Bürger sind. Die Diskussion ist meist geprägt von einem diffusen Unbehagen gegenüber den neuen Möglichkeiten und der Macht von Big Tech sowie des Staates." Um etwas zu erreichen, müsse konkret identifiziert werden, welche Probleme sich stellen. "Im Vordergrund stehen die Gefahr von Diskriminierung und Manipulation. Zudem müssen wir uns Gedanken machen, was Privatsphäre in einem digitalen Umfeld bedeutet."
Gesetzestexte sind wie Softwarecode
Trotz den Bedenken von Rechtsexperten sieht Initiant Bendahan durchaus Chancen für die Initiative. "Das Parlament kann, wenn es sich selbst mit der Angelegenheit befasst, schneller handeln." Gesetzestexte seien "ein bisschen wie Softwarecode", so Gerhard Andrey: "Jedes einzelne Zeichen ist von Relevanz. Deshalb kann ein kleiner Einschub oder ein Weglassen weniger Zeichen oder Wörter eben dennoch grosse Auswirkungen haben."
Eine Änderung der Grundrechte zu erzielen, kann ein langer Weg sein. "Das ist in der Tat so", sagt Bendahan, "wir haben dies bei der Gleichstellung von Frauen und Männern gesehen." Und man müsse für das Anliegen der Initiative noch viel Überzeugungs- und Erklärungsarbeit leisten. "Aber wenn wir die Grundrechte nicht ändern, wird es noch langsamer gehen."