An der ersten nationalen Konferenz "Digitale Schweiz" verhandelten geladene Gäste aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wie die Digitalisierung der Schweiz gelingt. inside-it.ch war dabei.
Dieser Tage soll der süsse Duft der Zukunft den Schweizern in die Nase steigen, denn gleich zwei aufeinanderfolgende Tage sind nämlich der Digitalisierung gewidmet: An Tag eins diskutiert man heute an der ersten Nationalen Konferenz die theoretische Zukunft einer digitalen Schweiz. Und morgen, an Tag zwei kann an einem Digitaltag die aktuelle Praxis besichtigt werden.
In Biel treffen sich primär geladene Vertreter von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, aber auch einige, die aus einer öffentlichen Warteliste gewählt wurden. Bevor sie sich treffen können, müssen sie einen Flyer von 5G-Gegnern behändigen, die vor der Tür Spalier stehen.
Den Marktforschern sei eingangs etwas zu den Teilnehmern gesagt: Sie sind zu 90 Prozent männlich und grossmehrheitlich im Segment 45plus. Die unter 50-Jährigen wirken durchwegs sehr sportlich-sehnig. Anwesend sind diverse Konzernvertreter und Digitalswitzerland-Mitglieder, viele Vertreter von Behörden, Departementen, Schulen und halbstaatlichen Firmen. Aus der Informatikbranche sind alle relevanten Verbände da. Und zu einzelnen Firmen: Google hat drei Vertreter vor Ort, IBM und Microsoft ebenso, SAP hat zwei. Die hiesige ICT-Branche hingegen ist direkt eher schwach vertreten, beziehungsweise, die sechstgrösste Branche der Schweiz wurde vom Bakom im Prinzip gar nicht eingeladen. "Das ist okay, wir wissen ja, wie Digitalisierung geht", sagt einer von ihnen. Es ist nicht ganz ernst gemeint. Bilanzieren wir: Cyon ist da, Ericsson und Elca mit zwei und Liip wie Zeix mit einem Vertreter, dazu einige Consultantfirmen. Bibliothekare scheinen numerisch überlegen.
Staat muss "Enabler" werden
Gleich zwei Bundesräte treten in Biel auf und sieben Bundesämter und Staatssekretariate leiten "Workshops" zu einzelnen zentralen Themen wie Bildung, Bevölkerungsschutz und Arbeitsplätze der Zukunft. Doris Leuthard hielt in einer Grundsatzrede fest, man sei gut aufgestellt im Allgemeinen und auch im Speziellen. Doch, bei E-Government sei Handlungsbedarf, ebenso im Bildungsbereich. Der Staat müsse zum "Enabler" der Digitalisierung werden und mit Blick auf den Konflikt Uber-Taxigewerbe u.ä. sollen gleich lange Spiesse gelten.
Das Terrain war bereitet für eine viel beachtete Keynote des ehemaligen CIOs von Estland, Taavi Kotka, unter dem Motto "Trust your engineers". Und es staunten manche, wie man rund um eine E-ID alle denkbaren Datenbanken und Services anbinden kann, um dann daraus resultierende Services – wie E-Residency – global ausrollen zu können. Das sei auch aus Datenschutz- und Securitygründen viel besser. "Aber ohne Leidensdruck geht nichts", sagte Kotka und fügte an die Schweiz habe es bislang mit der Digitalisierung "vermasselt, denn ihr redet darüber, statt zu handeln."
"Wenn" und "Aber"
An einem Panel gibt es dann viele "Digitalisierung aber" zu hören, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Nur Dolfi Müller, Stadtpräsident von Zug sagt deutsch und deutlich zur Digitalisierung: "Just do it". Schliesslich beginnt der versprochene Dialog, nämlich Fragen stellen, und nun kommen die "Aber"-Themen Security und die Cyberarmee erstmals aufs Tapet, während Doris Leuthard den Saal gleichzeitig verlässt. Sie kann die Frage, ob es ein Staatssekretariat für Digitalisierung brauche, nicht beantworten.
Sieben parallele Workshops beginnen nach dem Lunch, fertig Frontalunterricht? "Digitalisierung und Innovation" hatte das KTI – bald Innosuisse – angekündigt. Der Workshop mit geschätzten 70 Teilnehmenden gibt nicht viel Arbeit, sondern Frontalunterricht von und über Startups. Amüsant: Ein Google-Mann stellt eine 'NZZ'-Newsapp vor, die mit Brosamen aus AdWords-Profiten mitfinanziert wurde. Sie kann den 'NZZ'-Lesern per Algorithmus personalisierte Inhalte liefern. Offenbar finden die 'NZZ'-Leser ihre persönliche Informations-Bubble nicht gefährlich, im Gegenteil.
"Wir müssen über Menschen reden"
Im übrigen wird auch nicht viel gearbeitet, man darf mit roten und grünen Karten über Thesen abstimmen, welche irgendwie aus Frontal-Statements herausdestilliert wurden. Grossartig Neues kommt entsprechend nicht heraus: Netzwerke und Kooperationen seien erfolgsentscheidend, und man müsse agil bleiben. Immerhin. Als eine der ersten Thesen wird übrigens per Publikumsvoting beerdigt, dass Firmen bei der Digitalisierung interne und externe Hilfe bräuchten.
Der Netzwerkgedanke, den die ICT-Branche und Digitalkonzerne längst kennt, transpiriert so zu all den geladenen Gästen. Irgendwann "schleicht" Bundesrat Johann Schneider Ammann in den Innovations-Saal (der zukunftsweisend "Vereinssaal" heisst) und hört einer eher uninspirierenden Kürzestdebatte still zu. Möglicherweise hört er das einzig unerwartete Statement, das von Christine Kehl, die Run My Accounts, vorstellte. Das Startup habe 42 Arbeitsplätze geschaffen, "aber vermutlich 100 vernichtet. Wir müssen über Menschen reden". Darüber wird beim KTI-Event aber nicht geredet. Sondern von Effizienz und Customer Experience und dass der Digitalswitzerland-Geschäftsführer sein Startup an eine Versicherung verkauft hat. Immerhin.
Mit Digitalisierung Ressourcen besser managen
Abschliessend kommen sieben primäre Thesen aus den "Workshops" im Plenum zur Diskussion. Und die sind: "Der Schlüssel zum Erfolg ist die Bildung; ohne nachhaltige Sicherheit und Vertrauen gibt es keine digitale Transformation; umfassende Anwendung von Open-Data-Prinzipien sollen als Handlungsmaxime in der öffentliche Verwaltung Einzug halten; der Staat muss im Zeitalter der Digitalisierung seine aktive Rolle in der Erbringung von Service Public überdenken und sich auf die Bereitstellung von digitaler Infrastruktur fokussieren."
Und schliesslich die längste, und überraschendste These: "Die Digitalisierung senkt den Verbrauch von natürlichen Ressourcen, Materialien und Energie und steigert die Prozesseffizienz. Die Wissenschaft entwickelt die entsprechenden Methoden, um knappe Umweltgüter transparent zu managen und deren Verbrauch zu reduzieren. Die Digitalisierung leistet damit einen zentralen Beitrag zur Erreichung von SDG 11 (Sustainable Cities)."
Diese Thesen würden in die digitale Strategie des Bundes einfliessen, hielt die Moderatorin zuhanden der Gäste fest, die einen Arbeitstag in die Digitalisierungs-Spezifikationen der Schweiz investiert hatten.
"Auch diese Revolution werden wir überstehen"
Bundesrat Johann Schneider-Ammann beschloss die erste Konferenz mit Anekdoten und seinem Fazit: "Vertrauen ist zentral, auf diesem müssen wir aufbauen", "Bildung ist der Schlüssel" und wir "müssen uns ständig neu erfinden wollen und wagen" (womit Flexibilität im Arbeitsmarkt gemeint sei). "Wir haben drei Revolutionen gut überstanden und es gibt keinen Grund, warum uns das diesmal nicht gelingen sollte. Jeder muss mitgehen können, wir können uns keine Disruption durch die Gesellschaft leisten."
Wenn der Start der aktuellen Kalenderwoche 47 als gelungener Schweizer Kick-off-Event für die Digitalisierung gelten soll, dann wird man von Open-Government-Data über Arbeitsrecht bis hin zur Bildungslandschaft noch einiges Konkretisieren müssen an der nächsten Konferenz, und den Dialog nicht bloss ankündigen. Aber immerhin, ein Kick-off war es. (Marcel Gamma)
Korrigenda: In der ersten Fassung wurde Christina Kehl als Geschäftsführerin von Run my Accounts bezeichnet. Dies ist sie nicht, sie hat als Geschäftsführerin des Verbands Swiss Finance Startups gesprochen, bei welchem Run my Accounts Mitglied ist. "Vielleicht hat Christina Kehl mit der Aussage der 100 vernichteten Arbeitsplätze recht - vielleicht auch nicht. Es ist gut, dass sie das angesprochen hat, denn die sozialen Folgen müssen an einer Veranstaltung zur Digitalisierung besprochen werden", so ein Vertreter des Startups.