In einem offenen Brief haben 36 Politikerinnen und Politiker aus Europa an die EU-Mitgliedstaaten appelliert, gegen die sogenannte Chatkontrolle zur Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder zu stimmen. Man sei davon überzeugt, dass die vorgeschlagenen Massnahmen mit den europäischen Grundrechten unvereinbar seien, hiess es in dem Papier, das der 'Deutschen Presseagentur' ('DPA') vorliegt.
Zu den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern gehören unter anderem die deutsche FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, ihr Parteikollege Konstantin Kuhle sowie Konstantin von Notz und Emilia Fester von den Grünen. Neben Politikern aus nationalen Parlamenten wie beispielsweise Deutschland und Österreich unterzeichneten auch Europaabgeordnete das Papier.
Darin heisst es unter anderem: "Wir setzen uns für den Schutz des Rechts auf anonyme und pseudonyme Nutzung des Internets sowie für die Stärkung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ein." Alle verhandelnden Regierungen würden dringend dazu aufgerufen, die aktuellen Pläne abzulehnen.
Die EU-Kommission hatte 2022 einen Vorschlag vorgelegt, wonach Anbieter wie Google oder Meta unter bestimmten Umständen verpflichtet werden können, ihre Dienste mithilfe von Software nach Missbrauchsdarstellungen von Kindern zu durchsuchen. Kritiker sprechen dabei von einer Chatkontrolle und fürchten Massenüberwachung. Auch der deutsche Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) äusserte Bedenken.
Kinderschutz ohne Eingriff in die Privatsphäre
Den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern zufolge ist ein Ansatz nötig, der unter anderem den Schutz vor sexuellem Kindesmissbrauch in den Vordergrund stellt. Ausserdem seien mehr Ressourcen und eine gezieltere Koordinierung der europäischen Strafverfolgungsbehörden nötig.
"Anstatt Kinder effektiv vor sexualisierter Gewalt im Netz zu schützen, greift der Kompromissentwurf auch weiterhin massiv in den Schutz der digitalen Privatsphäre aller ein", sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete und deutscher Mitinitiator Tobias Bacherle gegenüber der 'DPA'.
Der digitalpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und ebenfalls Mitinitiator, Maximilian Funke-Kaiser, sagte, die Chatkontrolle schaffe keine zusätzliche Sicherheit für Kinder, sondern führe zum Ende der privaten Kommunikation über Messenger, wie man sie kenne.
Ähnlich urteilte auch schon der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Im
Urteil von Mitte Februar hiess es, dass die Schwächung von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung unverhältnismässig sei. Trotzdem wollen sich die EU-Staaten voraussichtlich am Mittwoch, 19. Juni, erneut mit dem Thema befassen.
In der Schweiz (teilweise) schon legal
Anders als in der EU ist die Chatkontrolle in der Schweiz teilweise schon rechtlich erlaubt. So hat das schweizerische Bundesgericht am 15. Mai 2024 die Verwertung von Beweismitteln aus der Chatkontrolle bei Instagram für zulässig erklärt. Dabei ging es um ein mutmasslich verbotenes Video, das aus der Überwachung von Meta über die USA in die Schweiz gelangte und in einem Strafverfahren verwendet werden durfte.
Das Bundesgericht stützte sich dabei auf die Argumentation, dass die Chatkontrolle aufgrund der Nutzungsbedingungen und Datenschutzrichtlinien von Instagram hinreichend erkennbar gewesen sei. Der betroffene Nutzer habe seine Einwilligung für die Überwachung erteilt. Zudem erklärte das Bundesgericht, dass die Nutzung eines Onlinedienstes von einer europäischen Anbieterin, die sich in amerikanischem Besitz befindet, "risikobehaftet" sei und man nicht darauf vertrauen könne, dass keine Daten in die USA gelangen können.
Wie
'Steiger Legal' schreibt, dürfen Schweizer Strafverfolgungsbehörden keine automatisierte Echtzeit-Überwachung von Chats vornehmen, selbst wenn sie technisch dazu in der Lage wären. "Es würde sich um eine unzulässige automatisierte Beweisausforschung ("Fishing Expedition") handeln, da es keine strafprozessuale Grundlage gäbe und das Vorgehen auch nicht verhältnismässig wäre."
Inwiefern diese Rechtslage durch eine Einwilligung gegenüber Meta gemäss dem Schweizer Datenschutzgesetz (DSG) ausgehebelt werden soll, ist für den auf IT und Digitalisierung spezialisierten Rechtsanwalt hingegen nicht nachvollziehbar.
(Mit Material von Keystone-sda)