Europa hinkt bei der KI-Einführung hinterher

9. April 2025 um 10:37
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Stefano Brusoni, Professor für Technologie- und Innovationsmanagement an der ETH Zürich. Foto: Giulia Marthaler / ETH Zürich

Eine Studie der ETH hat die Verbreitung und Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz untersucht. Dabei zeigte sich, dass in den USA und China bessere Voraussetzungen herrschen.

Die ETH Zürich und Zühlke haben eine Studie durchgeführt, wie Unternehmen KI-Technologien einsetzen. Befragt wurden 633 Unternehmen aus den Bereichen Produktion, Technologie, Healthcare und Finanzen aus der DACH-Region, Grossbritannien und den USA. Stefano Brusoni, Professor für Technologie und Innovations­management, untersucht die Hindernisse für Innovation und Wandel auf individueller und organisatorischer Ebene. Im Interview erzählt er, wo das grösste Potential liegt und wo Europa noch Nachholbedarf hat.
Worum geht es in der Studie und was ist die Kernaussage? Die Studie befasst sich mit der Verbreitung und den Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz. Sie untersucht, welche Technologien zu welchem Zweck und in welchen Funktionen eingesetzt werden. Die wichtigste Erkenntnis ist, dass Unternehmen in der DACH-Region im Vergleich zu amerikanischen Unternehmen geringere Adoptionsraten aufweisen und erst später mit dem Einsatz von KI begonnen haben. Man setzt sie vor allem in der Forschung und Entwicklung ein, aber weniger in kundenorientierten Funktionen wie dem Marketing.
Hat Sie das Ergebnis überrascht? Ja und nein. Die Unternehmen in der DACH-Region sind zwar nicht so nah an den Tech-Giganten dran, die Studie gibt aber keine Hinweise darauf, dass es in der DACH-Region schwieriger ist, auf Daten, Modelle oder Algorithmen zuzugreifen. Ein sichtbarer Unterschied zwischen Unternehmen hier und in den USA besteht darin, dass wir bei der Entwicklung sogenannter ethischer Rahmenwerke hinterherhinken.
Was verstehen Sie unter ethischen Rahmenbedingungen? Sie sind eine wichtige Voraussetzung für den Einsatz von KI. Sie legen Verantwortlichkeiten fest und setzen klare Grenzen. Im Grunde ermöglichen sie die Nutzung von KI, und in den USA sind solche Rahmenbedingungen ausgereifter.
Wird in den USA nicht auch viel mehr investiert? Der Zugang zu Grossinvestitionen ist dort traditionell einfacher, ja. Nicht nur die Anfangsinvestition in ein Startup, sondern auch Nachfolgeinvestitionen, die man braucht, um wirklich zu skalieren und zu industrialisieren. Das ist ein grosses Plus.
Was müsste Europa besser machen? Das Fehlen eines einheimischen Tech-Giganten ist ein grosser Nachteil. Im Gegensatz zu China hat Europa aber auch keine Alternativen zu amerika­ni­schen Technologien entwickelt. EU-Initiativen konzentrieren sich in erster Linie auf die Regulierung des Datenzugangs und positionieren Europa als Nutzer, nicht aber als Entwickler. Die USA und China sind in dieser Hinsicht ganz anders. Sie sind Nutzer, Entwickler und Befähiger in einem.
China ist also auf dem Vormarsch? China investiert schon seit langer Zeit in KI und war viel produktiver, als wir vielleicht wahrgenommen haben. Erst jetzt kommt zum Vorschein, dass sie Technologien entwickelt haben, mit denen wir mittlerweile alle vertraut sind. Deepseek ist in diesem Sinne keine Überraschung. Es handelt sich um die Fortsetzung einer bestimmten Art und Weise, in KI zu investieren und zu versuchen, Open-Source-Entwicklungen zu nutzen, um Hindernisse zu umgehen, die China durch Vorschriften und Handelsbeschränkungen auferlegt wurden.
Was können wir von China und den USA lernen? Speziell von China können wir lernen, dass es nicht nur einen Weg gibt, generative KI zu betreiben. Die Vereinigten Staaten haben wie die Schweiz einen guten Zugang zu Spitzenuniversitäten, aber vor allem zu Gross­investitionen und besitzen relativ lockere Vorschriften, was wiederum zu Governance-Problemen führen kann. Die EU allerdings hat kaum Anreize geschaffen und Europa zu einem Ort der KI-Nutzung statt der -Entwicklung reguliert.
Was kann die Schweiz besonders gut? Die Schweiz wird von den Rahmenbedingungen der EU beeinflusst, geniesst aber grössere Flexibilität. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern sind wir näher an führenden Institutionen, einschliesslich der ETH Zürich. Ein Beweis dafür ist, dass Google, Apple, IBM und viele US-Tech-Unternehmen in der Schweiz stark vertreten sind, und zwar nicht nur, um Dienstleistungen zu verkaufen, sondern auch, um ihre Technologien hier zu entwickeln.
Ausserdem haben wir viele und vielversprechende Startups. Das Problem ist nur, dass sie nicht wachsen, sondern von den Googles und IBMs dieser Welt übernommen zu werden. Die Schweiz ist hervorragend in der Entwicklung, kämpft aber mit der "Produktifizierung". Viele Startups wachsen nicht im eigenen Land, weil sie zu früh übernommen werden.
Was sind die Erfolgsfaktoren für den Einsatz von KI? Erst einmal ist der Zugang zur Technologie und den Daten entscheidend. Auch wenn in Europa die Technologien nicht entwickelt werden, können sie eingekauft werden. Was jedoch wirklich fehlt, ist ein ethischer Rahmen oder allgemeiner gesagt die Entwicklung von Organisationsprozessen und Governance-Grundsätzen wie: Wo sind die Daten gespeichert? Wer hat Zugang zu ihnen? Wer ist verantwortlich für ihre Nutzung? Der ethische Rahmen ist ein Managementinstrument, das für Transparenz sorgt und eine verantwortungsvolle Entscheidungsfindung erleichtert. Ohne das wird es schwierig, die Technologien in grossem Umfang anzuwenden.
Warum treiben ausgerechnet Marketingabteilungen den Einsatz von KI voran? Marketing- und HR-Abteilungen haben Pionierarbeit im Bereich der Künstlichen Intelligenz geleistet. Sie hatten grosse Datensets und das Bedürfnis, diese zu nutzen. Gerade sehen wir aber auch eine steigende Nutzung in den Bereichen Forschung und Entwicklung sowie im Betrieb. Digitale Zwillinge zum Beispiel erleben ein Comeback. Sie waren vor zehn Jahren ein grosses Ding, konnten allerdings ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen. Viele Dinge, die unter dem Begriff "digitale Transformation" zusammengefasst werden, sind eigentlich eine Wiederbelebung von Trends. Vieles gibt es schon länger, wurde aber nie so angewandt, wie es jetzt möglich ist.
Konnten Sie in Ihrer Studie einen Unterschied zwischen prädikativer und generativer KI feststellen? Prädikative KI erstellt Prognosen auf Grundlage von Daten aus der Vergangenheit und generative KI erzeugt neue Inhalte. Unternehmen, die schon vor zehn, fünfzehn Jahren damit begonnen haben, Big Data zu nutzen, haben sich früh mit prädikativer KI auseinandergesetzt, weil sie Tools brauchten, um diese Daten systematisch und zuverlässig zu analysieren. Generative KI ergänzt das. Unternehmen, die bereits in der Nutzung von Big Data Pionierarbeit geleistet haben, führen in der Regel auch generative KI schneller ein.
Was raten Sie Unternehmen, wenn sie KI erfolgreich einsetzen wollen? Unternehmen sollten darüber nachdenken, worin sie wirklich gut sind, und welche Aktivitäten von zentraler Bedeutung für die eigene Wett­bewerbs­fähigkeit sind. Sie führen täglich Millionen von Aufgaben und Tätigkeiten aus, von denen alle wichtig, aber nicht alle entscheidend sind. Diese Differen­zierung müssen sie herausarbeiten und ein Regelsystem entwickeln, das die Kritikalität und Komplexität der Aufgaben berücksichtigt. Für strategische Aktivitäten, bei denen viel auf dem Spiel steht, braucht es einen klaren Governance-Rahmen, in dem Zuständigkeiten, Risiken und menschliche Kontrolle definiert sind.
Bei Routineaufgaben mit geringem Risiko, wie dem Verfassen von Sitzungs­protokollen, kann man den Mitarbeitenden hingegen die Freiheit geben, mit KI-Tools zu experimentieren. Der Schlüssel liegt in einem differenzierten KI-Reglement: sorgfältig konzipierte Governance für wettbewerbsrelevante Kernaktivitäten, strukturierte Compliance für kritische, aber einfachere Funktionen und offene Experimente für Routineaufgaben. Wenn man jetzt einen Prozess anwendet, der für alles gleich ist, wird das die Entscheidungs­findung für immer verlangsamen. Und gerade ist nicht der richtige Zeitpunkt, um langsam zu sein.
Walter Schmid / ETH News

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