Justitia 4.0: Anwälte können Portokosten sparen

23. September 2022 um 06:45
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Franz Achermann, IT-Architekt, und Gesamtprojektleiter Jacques Bühler (r.). Foto: zVg

Nächstes Jahr startet die Entwicklung von Justitia 4.0. Im Interview erläutert Gesamtprojektleiter Jacques Bühler, wie er Anwälte überzeugen will, warum die Post auf Millionen verzichten muss und weshalb das Mitmachen der Kantone freiwillig ist.

Vor gut drei Jahren starteten Kantone und Gerichte die Entwicklung einer zentralen Justiz-Plattform für den elektronischen Rechtsverkehr und die Akteneinsicht im Rahmen des Projektes Justitia 4.0. Pro Jahr sollen rund eine Million Justizverfahren über die Plattform abgewickelt werden.
Aber noch bevor das Bundesgesetz über die Plattform für die elektronische Kommunikation in der Justiz (BEKJ) im Jahr 2025 in Kraft tritt, starten die beiden Unternehmen Elca und Zühlke mit ihrer Arbeit am 65 Millionen Franken schweren Auftrag. Inside-it.ch hat Gesamtprojektleiter Jacques Bühler und den IT-Architekten Franz Achermann gefragt, ob das ein normales Vorgehen ist und welche Hürden noch zu überspringen sind.
Das Gesetz, das die Grundlage ihrer Arbeit ist, tritt nicht vor 2025 in Kraft. Warum können Sie jetzt schon das Geld ausgeben? Bühler: Wir wollen alle Lieferobjekte, also Plattform, Justizakte-Applikation und Transformationsmassnahmen, auf diesen Zeitpunkt parat haben – in einer brauchbaren, erprobten Version.
Vergangenes Jahr engagierten Sie zusätzlich eine Kommunikationsagentur für 3,3 Millionen Franken. Haben die schon angefangen? Viel davon bemerkt habe ich bis jetzt noch nicht. Der Betrag umfasst sowohl sämtliche Kommunikationsmassnahmen als auch alle Transformationsmassnahmen bis 2027 – also zum Beispiel die Durchführung von Schulungen. Zudem arbeiten wir an einem neuen Internetauftritt. Aber es stimmt: Wir sind noch in der Konzeptionsphase. Eine Intensivierung der Kommunikation wird mit dem Fortschreiten der Produkte erfolgen. Ein Meilenstein hierbei wird der Pilotbetrieb sein.
Ab wann sind Sie denn dafür bereit? Achermann: Der Zuschlag wurde am 11. Juli 2022 an Elca und Zühlke erteilt. Während Letztere für die Entwicklung zuständig sind, wird Elca den Betrieb verantworten. Zum Betrieb gehört beispielsweise auch der Telefonsupport in drei Sprachen bis um Mitternacht. Im ersten Quartal 2023 starten wir mit der Entwicklung der Plattform und wollen ungefähr ein Jahr später ein MVP für erste Pilotversuche bereit haben.
Also 1 Jahr vor Go-Live? Bühler: Das hängt vom Gesetzgeber ab. Eine produktive Betriebsaufnahme bereits ein Jahr nach Abschluss der Entwicklung des MVP halte ich für unwahrscheinlich, weil auch noch Verordnungen gemacht werden müssen, die wiederum in die Vernehmlassung müssen. Vor Mitte 2025 wird das BEKJ nicht in Kraft sein und vorher werden wir die Plattform auch nicht ausrollen können.
Aber auf welcher gesetzlichen Grundlage arbeiten Sie denn momentan? Ist es ein normaler Vorgang, dass bereits vor Inkrafttreten eines Gesetzes losgelegt werden kann? Dass vor dem Inkrafttreten eines Gesetzes Pilotversuche gemacht werden, ist ein normaler Vorgang. Es geht insbesondere darum, genügend Zeit vorzusehen, um die Plattform mit all den unterschiedlichen kantonalen IT-Systemen der Justiz zu integrieren und die Abläufe wo nötig anzupassen. Es geht ausserdem darum, Erfahrungen zu sammeln, damit die Gesetzgebung nicht fernab jeder Realität sein wird. Falls es in der Gesetzgebung Änderungen und Präzisierungen geben wird, werden wir diese aufnehmen.
Ist es nicht doch ein Risiko, quasi in Vorleistung zu gehen und dann wird schlimmstenfalls alles anders? Nein, aufgrund der Rückmeldungen in der Vernehmlassung zum BEKJ sind die Grundfunktionalitäten der Plattform unumstritten. Kritisiert wurden Formalitäten wie die Zusammensetzung der Organe oder dass keine Übergangsfristen vorgesehen waren. Letzteres wurde bereits geändert; neu ist eine Übergangsfrist von zwei Jahren vorgesehen.
Eine wichtige inhaltliche Änderung gab es ja doch noch: Statt einer zentralen Plattform für alle Kantone ist das Mitmachen nun freiwillig. Achermann: Diese Anpassung wurde vom Bundesamt für Justiz vorgenommen, damit nicht ein Kanton den gesamten Prozess blockieren kann. Es ist also möglich und vorgesehen, dass einzelne wenige Kantone nicht mitmachen.
Haben Sie eine Ahnung, welche Kantone eher nicht dabei sein werden? Bühler: Die Finanzierung unseres Projekts erfolgt zur Hälfte durch die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) und zur Hälfte durch die Justizkonferenz, das sind alle kantonalen Gerichte. Auch der Schweizerische Anwaltsverband unterstützt das Vorhaben. Bis jetzt hat sich auch noch kein Kanton gemeldet, der nicht mitmachen will.
Trotzdem kann jeder Kanton sein eigenes Süppchen kochen. Das ist so, aber das wäre schade. Sie könnten auch den von uns veröffentlichten Code nehmen und darauf aufbauen. Aber so oder so wäre es mehrfacher Aufwand. Wir sind im regelmässigen Kontakt mit den Kantonen und sind überzeugt, dass wir alle an Bord holen können, sobald die Plattform gebaut ist.
Bis jetzt ist ja auch noch nicht bekannt, was die Kantone der Einsatz der Plattform kosten wird. Je nachdem könnte das dann doch den einen oder anderen dazu bewegen, weiterhin Papiere hin und herzuschieben. Bis jetzt gibt es keine Anzeichen dafür. Auch die Finanzierung durch die genannten Gremien war kein Problem. Gemäss BEKJ soll die elektronische Akte die führende Akte werden und der Rechtsverkehr wird ausschliesslich elektronisch stattfinden. Nur Privatpersonen und Firmen sind vom Obligatorium befreit und können weiterhin postalisch mit den Behörden kommunizieren.
Apropos Finanzierung: Der Kostenrahmen für Justitia 4.0 ist 50 Millionen Franken. Elca und Zühlke erhalten aber 65 Millionen. Wie kommt die Differenz zustande? Die Projektdauer ist auf 2020 bis 2027 angelegt, dafür sind die 50 Millionen budgetiert. Ausgeschrieben haben wir jedoch auch Optionen bis 2035, also kosten der Betrieb und die Weiterentwicklung ab 2028 bis zu 15 Millionen Franken.
Was hat für Elca und Zühlke gesprochen? Achermann: Sie haben das qualitativ beste Angebot eingereicht. Wir haben den Preis bewusst weniger wichtig eingestuft als die Qualität. Die beiden Firmen haben auch bei der Präsentation überzeugt und wir haben gemerkt, dass sie verstehen, worum es geht.
Aber eine Open Source Lösung steht damit nicht im Vordergrund. Bühler: Das stimmt so nicht. Der Code wird, abgesehen von datenschutzrechtlichen oder sicherheitskritischen Teilen, veröffentlicht. Aber es kann sein, dass gewisse Closed-Source-Komponenten vorhanden sind, wenn es keine besseren Alternativen gibt.
Achermann: Im Zweifelsfall ist uns Open Source lieber. Die Anbieter mussten uns erklären, warum sie bei bestimmten Komponenten wie beispielsweise Datenbanken auf proprietäre Lösungen setzen würden.
Wo wird die Datenhaltung sein, in wessen Cloud? Bühler: Die gesetzliche Vorgabe ist, dass die Datenhaltung in der Schweiz sein muss – bei einer Firma, bei der das schweizerische Datenschutzrecht anwendbar ist.
Also muss es eine Schweizer Firma sein und kein Hyperscaler? Achermann: Korrekt. Stand heute, wird der technische Betrieb bei Elca in der Schweiz sein.
Stand heute heisst? Bühler: Es kann sein, dass vom Gesetz künftig verlangt wird, dass die Daten beim Staat gehostet werden. Dann würden wir die Infrastruktur und insbesondere das Hosting der Daten beispielsweise zum Bundesamt für Informatik und Telekommunikation (BIT) migrieren.
Wenn wir Justitia 4.0 mit dem elektronischen Patientendossier vergleichen: Dieses kommt nicht so richtig vom Fleck, weil zum Beispiel die Hausärzte nicht mitmachen müssen. Gehen Sie das anders an und zwingen Sie jede Juristin, mitzumachen? Wie gesagt ist im heutigen Gesetzesentwurf eine Verpflichtung zum elektronischen Rechtsverkehr zwischen Anwälten und den Justizbehörden vorgesehen. Zusätzlich werden die Justizbehörden verpflichtet, ihre Akten elektronisch zu führen. Das sollte eine genügend grosse Masse ergeben.
Jetzt gibt es aber nicht nur grosse Kanzleien, sondern auch kleine – und alle haben ihre eigene Anwaltssoftware im Einsatz. Wie wollen sie sicherstellen, dass Justitia 4.0 nicht zu einer Portallösung verkommt? Wir werden APIs für allen gängigen Anwaltstools und Kanzleisoftware-Produkten anbieten. Aber es stimmt, es ist eine Herausforderung, alle 12'000 Anwälte ins Boot zu holen. Aber wer die Plattform nutzt, kann unter anderem massiv Portokosten sparen. Wenn das kein Anreiz ist…
Weiss das die Post schon? Um wie viel Geld geht es? Dies ist der Post natürlich bekannt. Staatsanwaltschaften und Gerichte zahlen jährlich rund 18 Millionen Franken Portokosten.
Wie stellen Sie sicher, dass die Daten sicher übertragen werden? Wird es eine End-zu-End-Verschlüsselung geben? Achermann: Die Sicherheit der Software wird bereits im Entwicklungsprozess berücksichtigt und in den kompletten Lebenszyklus eines Produkts integriert. Dabei werden sowohl technische wie auch organisatorische Aspekte betrachtet und die Sicherheit wird als kontinuierlicher Prozess im ganzen Entwicklungsprozess verstanden – und nicht als eine am Schluss aufgesetzte Sicherheitsbarriere, die beim Arbeiten stört. Eine End-zu-End-Verschlüsselung ist zurzeit nicht vorgesehen, da diverse Herausforderungen wie die benötigte Virenprüfung oder die Delegationsmöglichkeiten der Akteneinsicht eine Umschlüsselung der Dokumente auf der Plattform nötig machen.
Heute müssen Dokumente digital signiert werden, was Anwaltskreise häufig kritisieren. Wirds da eine Änderung geben? Bühler: Ja, die qualifizierte elektronische Signatur für die Anwälte wird wegfallen. Wer über die Plattform verkehrt, ist schon genügend identifiziert, deshalb ist das nicht mehr notwendig.
Noch gibt es aber keine staatliche Identifikation. Das ist richtig und ich bin selbst gespannt, welches Gesetz zuerst kommt. Das BEKJ oder jenes für die E-ID. Der Bundesrat wird entscheiden, welche digitalen Identitäten anerkannt sein werden für die Authentifizierung. Auf keinen Fall wollen wir eigene juristische Identitäten schaffen.

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