Kommentar: Now comes the crypto pain

11. November 2022 um 16:13
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Schlechte Nachrichten für techaffine Wohlhabende, monetäre Anarchisten und Ransomware-Banden: Die Insolvenz der Kryptobörse FTX lässt Träume platzen.

Wer im November 2021 für 1000 Franken Bitcoin kaufte, hat heute ein Loch von 750 Franken in seinem Cryptowallet zu beklagen. Die Welt ausserhalb des dezentralen Systems ist in die Träume der Kryptobrüder und ihrer wenigen Schwestern geplatzt: Zinserhöhungen der Zentralbanken, Betrugsversuche mit abenteuerlichen Geschäftsmodellen, Regulationsbemühungen der Staaten. Dabei war der Bitcoin einst angetreten, ausserhalb des Finanzsystems Sicherheit zu bieten und zugleich den Staat und seine Zugriffsmöglichkeit auf die Geldbesitzer auszuschalten.
Das war im Herbst 2008.
Damals hatte Satoshi Nakamoto sein berühmtes Whitepaper mit dem ganz bescheidenen Titel "Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System" (PDF) veröffentlicht. Im selben Jahr taumelte die Finanzwelt am Rand des Abgrundes, nachdem die Investmentbank Lehman Brothers Konkurs anmelden musste und ihre Angestellten mit ihren Siebensachen auf die Strasse geströmt waren. Der Bitcoin versprach eine Absicherung ausserhalb des offiziellen Finanzsystems mit seinem wuchernden Schattenbankensektor. Die neuste Variation des Sicherheitsversprechens lautete: Sicherheit gegen Inflation. Auch das: längst passé.

Libertäre, Privatbanken und Techmillionäre

In der langen Phase der Niedrigzinsen nach dem Crash von 2008 war viel Geld auf der Suche nach Anlagen, so dass sich Krypto als Anlageklasse etablieren konnte – unter anderem wurden sie von Privatbanken wie der Schweizer Maerki Baumann gerne Wohlhabenden zur Diversifizierung ihres Portfolios angeboten. Die Banker wollten grosses Interesse registriert haben. Libertären und monetär interessierten Anarchisten wiederum versprach der Bitcoin einen Traum: Geld ohne Staat – also ohne Regulierung und ohne Zentralbanken. Diese Utopie ist längst gestorben. Das Aus der Kryptobörse FTX dürfte der endgültige Todesschlag für die Idee sein, die noch immer in ein paar skurrilen Krypto-Zirkeln kursiert.
Man sollte es sich in der Häme aber nicht zu einfach machen. Die Mechanik des Crashs von FTX folgt einem altbekannten Drehbuch: Aufgrund drohender Verwerfungen wollen Kunden panikartig ihr Geld aus der Kryptobörse abziehen und stürzen das Unternehmen in eine Liquiditätskrise. Ein klassischer Bankenrun, vor dem auch das offizielle Finanzsystem nicht gefeit ist. Ausserdem: Auch andere Marktsegmente – etwa die Techgiganten – kämpfen mit den Verwerfungen infolge der Zinserhöhungen, die die Inflation eindämmen sollen: "Wie schlimm wird es?", fragte etwa das Wirtschaftsmagazin 'Capital' jüngst besorgt. Und auch kriminelle Machenschaften sind in der seriösen Welt nicht unbekannt. Man erinnere sich an den grossen Skandal um den Techfinanzdienstleister Wirecard.

Bankenrun und Casino-Spiele

Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat die Mechanik des Finanzdebakels nach 2008 in seinem Buch "Crashed" minutiös nachzeichnet. Entscheidend war ebenfalls eine Liquiditätspanik, allerdings auf dem Interbankenmarkt, auf dem sich Finanzinstitute mit flüssigen Mitteln versorgen. Der Befund von Tooze ist klar: Das System hat nur dank den Zentralbanken und ihren gigantischen Liquiditätsspritzen überlebt. Und dank weiteren staatlichen Rettungsmassnahmen, die etwa die UBS vor dem Niedergang bewahrt hatten. Seither hat es für die Geschäftsbanken strengere Vorschriften gegeben, dennoch bangte mancher Analyst zu Beginn der Pandemie, dass wiederum Finanzverwerfungen anstehen.
Die staatlichen Rettungsmassnahmen stehen aber für ein dezentrales, antistaatliches Geld nicht in Aussicht – es wurde ja gerade als Gegenmodell konstituiert. Die Idee eines Geldes, das Regulation und Geldpolitik nicht bedürfe, wird sich nun nicht nur theoretisch blamieren, sondern am weiteren Verlauf des Unheils. Darunter leiden dürften nicht nur die Ransomware-Banden, die sich ihre Feldzüge in Kryptogeld belohnen lassen. Viel Geld auf Bitcoin setzen, sollte man auf jeden Fall nicht. Wobei: Wenn man zocken möchte, könnte jetzt nicht der schlechteste Zeitpunkt sein.
PS. Mit der Technologie von Kryptowährungen, der Blockchain, hat sich eine Artikelreihe vertiefter und sachlicher beschäftigt.

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