

Erfolgsgeschichte verpasster Chancen
6. Juni 2008 um 12:17Warum Zürich nicht führend bei der Produktion von Lochkartenmaschinen wurde, was es mit dem Ubisco-Fiasko auf sich hat und weshalb die Entwicklung der Informatik trotz allem entscheidend aus der Schweiz heraus beeinflusst wurde.
Warum Zürich nicht führend bei der Produktion von Lochkartenmaschinen wurde, was es mit dem Ubisco-Fiasko auf sich hat und weshalb die Entwicklung der Informatik trotz allem entscheidend aus der Schweiz heraus beeinflusst wurde.
Ziemlich viel Informatik-Prominenz versammelte sich gestern Abend am Zürcher Hauptsitz von Accenture, um Gregor Hengers neu erschienenes Buch "Informatik in der Schweiz" zu feiern. Der Untertitel "Erfolgsgeschichte verpasster Chancen" zeigt die Stossrichtigung des wirklich unterhaltsamen Werks: Aus der Schweiz, inbesonders aus den beiden ETHs in Zürich und Lausanne kamen zwar bahnbrechende Entwicklungen. Doch die massenhafte Kommerzialisierung, die zum Entstehen von grossen und hochprofitablen Firmen wie Microsoft, Oracle oder Samsung geführt hätte, überliess man anderen, vorzugsweise Amerikanern.
Dies war denn auch mit ein Thema der gestern Abend von Stefan Klapproth brilliant geführten Podiumsdiskussion mit Gregor Henger, den Professoren Niklaus Wirth und Wolfgang Fichtner sowie Accenture-Schweiz-Chef Thomas D. Meyer. Gehört es zum Kapitel der "verpassten Chancen", dass Professor Wirth, vom Fernseh-Mann als "Dalai Lama der Informatikgeschichte" betitelt, zwar wohlhabend aber kein Superreicher wurde? Ist es eine Katastrophe, dass er mit der Entwicklung der Programmiersprache Pascal die Computerei zwar enorm beeinflusste, aber sein Student Philippe Kahn mit der Firma Borland und der Entwicklungsumgebung Turbo-Pascal wirklich Geld machte? Für den alerten Professor ist es keine: "Ich hatte einen guten Lohn an der ETH. Und es gibt ja nicht nur das Ziel, finanziell erfolgreich zu sein, sondern auch Wissen zu vermehren und weiterzugeben."
Die Geschichte der Schweizer Informatik
Hengers "Informatik in der Schweiz" ist schön gemacht, voller überraschender Erkenntnisse und unterhaltsam und flüssig geschrieben. Wussten Sie, dass nicht nur die moderne Programmiersprache Pascal und die "Mutter aller PCs", die Lilith, an der ETH Zürich entwickelt wurden, sondern dass auch das Konzept des Compilers aus der Limmattstadt kommt? Die Lilith hätte übrigens in die Serienproduktion gehen sollen, doch die Kommerzialisierung scheiterte.
Anders die Computermaus, die ebenfalls für die Lilith von André Guignard an der EPFL entwickelt wurde und die mit den Anstoss zum Siegeszug von Logitech als Hersteller von Computer-Peripherie gab.
Henger geht weit zurück nicht nur in der Geschichte der Informatik, sondern auch in derjenigen der verpassten Chancen. So entwickelte im 16. Jahrhundert ein gebürtiger Toggenburger das erste bekannte Logarithmensystem Europas und Bull wurde 1931 als H.W. Egli Bull Compagnie in der Schweiz gegründet. Wir lernen, dass auf der historischen Z4, dem deutschen Computer, der 1950 auf abenteuerliche Weise an die ETH geholt wurde, Berechnungen für den Staudamm von Grand Dixence durchgeführt wurden und wie die Bankgesellschaft mit dem Projekt Ubisco einen riesigen Software-Flop landete.
Spannend auch die Geschichte von Hans Brüschweiler und der Schweizer NCR-Niederlassung, die mit Branchenlösungen unter anderem bei Gemeinden und Kantonen Erfolge feierte. Wieviele ERP-Systeme von NCR wohl heute noch produktiv laufen?
Wahrnehmungslücken in der Schweizer Informatik-Geschichte
Genau beim Thema ERP, Standard- und Individualsoftware zeigen sich allerdings Lücken in der Wahrnehmung nicht nur des Autors sondern der Gesellschaft überhaupt. Man fokussiert auf das Tun und Lassen von IBM, EPFL, ETH, NCR, Bull und vielleicht noch Logitech. Von den neueren Entwicklungen nimmt man grad Apple und Google zur Kenntnis, Schweizer sind nur von Belang, wenn sie, wie die Dallmann-Brüder, Hardware herstellen, was halt wirklich selten ist.
Erfolgsstories der Schweizer Software-Geschichte wie Abacus, deren Gründer ebenfalls bei den Berechnungen für das Jahrhundert-Bauwerk Grand-Dixence dabei waren. Ist nicht Phonak (auch) eine Informatik-Story? Und wussten Sie, dass irgendwelche mexikanischen Airlines ihre Flugzeuge mit (neuer) Software aus Kloten herumdirigieren? Firmen wie Elca sind übrigens keineswegs eine Ausnahme, wir kennen noch einige ähnlich Erfolgsstories von Adnovum über Ergon und Netcetera bis hin zu Zühlke.
Obwohl technisch immer wieder ganz vorne mit dabei, hat sich aus der Schweizer Informatik kein Weltkonzern gebildet und niemand wurde zum Superguru wie Bill Gates. Da hat Henger recht. Doch es hat sich eine lebendige, gut verdienende, industriell arbeitende und relevante Software-Industrie entwickelt. Dieses Kapitel fehlt dem Buch, das wir ansonsten wärmstens empfehlen. (Christoph Hugenschmidt)
Gregor Henger / Hans Ruedi Bramaz (Fotos). Informatik in der Schweiz. Eine Erfolgsgeschichte verpasster Chancen. Verlag Neue Zürcher Zeitung. 196 Seiten, 68 Franken. Das Buch gibts in Buchhandlungen oder Online direkt bei der NZZ.
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