Modell des neuen Besucherzentrums am Cern. Foto: Cern / Maximilien Brice
An der Forschungseinrichtung wird an physikalischen Grundlagen und der Entstehungsgeschichte des Universums geforscht. Inside IT hat die Geburtsstätte des World Wide Webs besucht.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lag Europa in Trümmern und die Wissenschaft am Boden. Viele schlaue Köpfe haben ihre Heimat verlassen und versuchten ihr Glück in den USA. Trotz des anhaltenden "Brain Drains" suchten europäische Physiker nach Mitteln und Wegen, um wieder Anschluss an die Spitzenforschung zu finden. So wurde die Grundidee für ein internationales Forschungszentrum geboren.
Nach mehreren Vorgesprächen wurde am 29. September 1954 das Cern in Genf gegründet. Der Name der internationalen Forschungs- und Entwicklungseinrichtung lehnt sich dabei an den Rat an, der mit der Gründung der Organisation beauftragt wurde, dem "Conseil européen pour la recherche nucléaire", oder eben kurz: Cern. Der Sitz der Europäischen Organisation für Kernforschung liegt in Meyrin bei Genf sowie auf dem direkt angrenzenden französischen Staatsgebiet.
Am Institut beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit physikalischer Grundlagenforschung und der Entstehungsgeschichte des Universums. Mit verschiedenen Teilchenbeschleunigern wird der Aufbau von Materie erforscht. Bekanntestes Beispiel dafür dürfte der rund 27 Kilometer lange "Large Hadron Collider" (LHC) sein, der 2008 in Betrieb genommen wurde und 2012 massgeblich an der Entdeckung des Higgs-Bosons beteiligt war.
Stadt in der Stadt
Inside IT hat die Forschungsstätte im Rahmen einer Pressereise besucht: Vom Bahnhof Genf führt eine rund 20 Minuten dauernde Fahrt durch Genf ins benachbarte Meyrin. Dort angekommen, steigt man an der hauseigenen Tramstation aus. Am gleichen Ort befindet sich auch dasim Oktober 2023 eröffnete Besucherzentrum "Science Gateway", in dem verschiedene Ausstellungen zu Physik und Quantenmechanik gezeigt werden.
Die Tramhaltestelle und das Besucherzentrum "Science Gateway" vor dem Cern. Illustration: Cern
Während das Besucherzentrum öffentlich zugänglich ist, wird das eingezäunte Gelände auf der anderen Seite der Strasse von Sicherheitsleuten bewacht. Einmal drinnen wirkt der riesige Komplex fast wie ein ganz normales Schweizer Industriegebiet. Viele der Gebäude sind im typischen Architekturstil der 50er-Jahre gebaut. Einzig Strassennamen wie "Route Albert Einstein" oder "Route Paul Scherrer" lassen darauf schliessen, dass hier an den Grundlagen der Physik geforscht wird.
Von der Grösse her könnte man das Cern mit einer kleinen Stadt vergleichen. Aktuell arbeiten rund 3500 Angestellte am Forschungszentrum. Diese machen allerdings nur den kleineren Teil der anwesenden Personen aus. Hauptsächlich sind 17'000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 85 verschiedenen Nationen mit den laufenden Experimenten beschäftigt.
So viele Menschen auf einem Haufen sind auch auf eine ganze Reihe an Dienstleistungen angewiesen. So gibt es im Cern beispielsweise einen eigenen Kindergarten, wo der Nachwuchs der Forschenden tagsüber untergebracht werden kann, eine Poststelle, einen Kiosk, zahlreiche öffentliche Kaffeemaschinen, Trinkbrunnen sowie mehrere Kantinen.
Geburtsstätte des World Wide Webs
Neben der Grundlagenforschung sind am Cern auch zahlreiche Nebenprodukte entstanden. So war die Forschungsstätte auch für die moderne Informatik von entscheidender Bedeutung. 1989 wurde hier der Grundstein für das Internet, wie wir es heute kennen, gelegt, als Tim Berners-Lee ein Medium für den digitalen Austausch von Forschungsergebnissen schaffen wollte. So entstand eine der wichtigsten Erfindungen der Neuzeit neben der eigentlichen Forschungsarbeit.
Nach dem Mittagessen in einem der hauseigenen Restaurants liess es sich eine kleine Gruppe der anwesenden Journalistinnen und Journalisten nicht nehmen, den Geburtsort des Webs zu besuchen. Was anfangs spektakulär klingt, stellte sich schlussendlich aber als ein einfacher Besuch in einem Flur mit zahlreichen Einzelbüros heraus. Heute zeugt dort eine Plakette von der Errungenschaft von Tim Berners-Lee.
In diesem Gang wurde das World Wide Web erfunden. Foto: Christian Wingeier
Wie ein Fussballspiel von oben
Ebenfalls besucht wurde das Control Center des "Large Hadron Collider". Hier werden im Rahmen des "Atlas"-Projekts Daten aus dem Teilchenbeschleuniger unter der Erde ausgewertet. Im knapp 27 Kilometer langen Tunnel werden die Teilchen fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und zur Kollision gebracht. So zerfallen diese in ihre einzelnen Elementarteilchen. Damit wurde unter anderem die Existenz des Higgs-Bosons belegt.
Für die Überwachung und die Analyse der Daten arbeiten im Kontrollraum rund 30 Personen. "Man muss sich das vorstellen, wie Aliens, die auf die Erde schauen und versuchen ein Fussballspiel zu verstehen", erklärte Teilchenphysikerin Catrin Bernius bei der Führung. Zeige man den Ausserirdischen nur ein einzelnes Bild des Spielfeldes von oben, können diese kaum Rückschlüsse auf die Regeln des Spiels schliessen, sagte die Forscherin.
"Erst wenn man mehrere Bilder in Serie sieht, fängt man an zu verstehen, was da eigentlich genau vor sich geht." Gleiches gilt auch für die Experimente am LHC. Erst durch Anomalien erfahre man Neues, sagte die Teilchenphysikerin. Dabei sind solche Abweichungen doch eher selten: "In einem von einer Million Fällen ist eine Kollision für uns interessant."
Gleichzeitig finden bei Hochbetrieb aber auch 600 Millionen Kollisionen pro Sekunde statt. Dafür gibt es beim Teilchenbeschleuniger eine Betriebssaison, die von März bis November läuft. Während dieser Zeit finden fortlaufend Versuche statt. Danach wird der Teilchenbeschleuniger jeweils für Wartungsarbeiten heruntergefahren, bevor dann im Frühling wieder mit neuen Versuchen gestartet wird.
Erklärvideo zu den Experimenten am LHC. Quelle: Youtube
Rechenpower aus der ganzen Welt
Bei der Durchführung der Experimente fallen ungeheure Datenmengen an. Um diese verarbeiten zu können, wurde 2009 das "Large Hadron Collider Computing Grid" (LCG) ins Leben gerufen. Mit diesem weltweit verteilten Rechen- und Speichernetzwerk bekommen Forschende die notwendigen Ressourcen, um die enorme Menge an Daten analysieren zu können. Ein Teil der Daten wurde auch auf 35925JB-Tape-Kassetten von IBM gespeichert, von denen man sich ein Original inklusive Daten im Besuchershop kaufen kann.
Verglichen mit anderen Supercomputern oder typischen Hochleistungsrechenzentren ist das LCG jedoch nach den Paradigmen des Grid-Computing aufgebaut. Dabei wird aus zahlreichen lose gekoppelten Computern ein virtueller Supercomputer erzeugt, der rechenintensive Probleme lösen kann. Über 140 Organisationen sind am Worldwide LHC Computing Grid beteiligt. Vorwiegend sind dies universitäre oder forschende Institutionen.
Gemeinsame Finanzierung
Als Organisation verfügt das Cern derzeit über 23 Mitgliedsstaaten. Die Schweiz, Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, das Vereinigte Königreich, Italien, Jugoslawien, die Niederlande, Norwegen und Schweden gehörten 1954 zu den Gründungsmitgliedern. Später kamen Österreich, Spanien, Portugal, Finnland, Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Bulgarien, Israel, Rumänien und zuletzt Serbien hinzu.
Das Jahresbudget der Organisation beläuft sich auf 1,1 Milliarden Franken und wird von den Mitgliedsstaaten proportional zum Bruttoinlandprodukt getragen. Dabei steuern Deutschland und das Vereinigte Königreich mit 243 Millionen Franken und 185 Millionen Franken am meisten bei. Der Beitrag der Schweiz beläuft sich auf knapp 50 Millionen Franken und liegt somit an siebter Stelle.
Interessenbindung: Der Autor wurde von Genf Tourismus auf die Pressereise eingeladen (Unterkunft und Verpflegung).