Im Ausbildungszentrum des ZLI wird unter anderem das ICT-Basislehrjahr angeboten. Screenshot aus dem Imagfilm des ZLI.
120'000 neue ICT-Fachkräfte braucht die Schweiz bis 2028. Warum das ungeheuer schwierig wird, erklärt Bildungsveteranin Barbara Jasch, Leiterin von ICT Berufsbildung Zürich, im Interview.
Rund 700 ICT-Lehrabschlüsse konnte Zürich dieses Jahr feiern. Zum Jubeln war aber nicht allen zumute. Der kantonale Ableger von ICT Berufsbildung Schweiz moniert, dass die Lehrstellen seit 2018 mehr oder weniger stagnieren, während der Bedarf an ICT-Fachleuten in unvermindertem Tempo zunimmt. Der Verband hat errechnet, dass bis 2028 schweizweit fast 120'000 neue Fachkräfte benötigt werden, wovon rund die Hälfte den beruflichen Bildungsweg einschlagen müssen.
Einen Beitrag dazu will ICT Berufsbildung Zürich leisten und helfen, im Kanton während den nächsten 8 Jahren 500 zusätzliche Lehrstellen zu schaffen. Geführt wird die Organisation, die manchem in der Branche unter dem etwas sperrigen Namen Zürcher Lehrbetriebsverband ICT (ZLI) bekannt sein dürfte, von Barbara Jasch. Die Betriebswirtin arbeitet seit einem Vierteljahrhundert in der ICT-Berufsbildung und hat viele Änderungen massgeblich beeinflusst. Sie weiss, wo der Schuh drückt.
Wir haben Jasch im Ausbildungszentrum des Verbandes im Zürcher Binzquartier zum Gespräch getroffen. Sie ärgert sich besonders über die fast 36'000 Abwanderungen aus der Informatik in andere Branchen, die bis 2028 befürchtet werden. Und sie wundert sich auch über Behäbigkeit in der Ausbildungslandschaft und der Politik. Denn eines ist klar: Der Fachkräftemangel bedroht nicht nur die Wirtschaftsleistung, sondern auch die Sicherheit der Infrastruktur.
Barbara Jasch. Foto: ZLI
Frau Jasch, wann war der ICT-Fachkräftemangel erstmals Thema?
Barbara Jasch: Seit ich in der IT-Branche tätig bin, also seit über 23 Jahren, ist das Problem bekannt. Seitdem ist aber der Bedarf an Fachleuten ständig gewachsen. Wenn mal wieder vom "War of Talents" gesprochen wird, wie gerade eben, ist die Lage düster.
Warum konnte man die Situation nicht verbessern?
Es liegt in der Natur der Sache, dass wir in der Bildung hinterherhinken. Schliesslich vermitteln wir Grundkonzepte und nicht konkrete Technologie. Aber selbst die sind schwierig zu eruieren. Wir besuchen regelmässig unsere Mitglieder, um deren Bedürfnisse zu ermitteln. Meist wissen die selbst nicht, welche Kompetenzen sie in 10 Jahren brauchen.
In der Zeitspanne passiert aber auch viel in der Technologie.
Ja, als ich beim Bildungsverband angefangen habe, haben wir noch Röhrenbildschirme rumgeschleppt. Bis 2009 wurde in der Lehre der Geräteinformatiker noch gelötet. Vor nicht so langer Zeit haben wir erst die Cloud-Thematik in die Grundbildung integriert.
Reagieren Sie hier einfach zu langsam?
Letztlich stellt sich die Frage, ob das duale Bildungssystem mit seinen langen Ausbildungszyklen für die dynamische IT-Welt noch angemessen ist. Allerdings gerät man rasch in einen Widerspruch zwischen einer nachhaltigen Grundausbildung und der Vermittlung neuster Technologien. Und man muss sich bei neuen Lehrinhalten auch immer fragen, was man stattdessen streichen kann.
Aber das Problem entsteht ja nicht nur aus "falschen" Lehrinhalten, es gibt über die meisten Technologien gesehen zu wenige ICT-Fachleute.
Die IT-Branche ist jung, man hat dort noch nicht verstanden, dass man die Leute nicht einfach für die Projekte braucht, sondern in sie investieren muss. Und man muss ihnen eine sinnstiftende Arbeit und Ruhephasen bieten, sonst brennen sie aus…
…die altbekannte Work-Life-Balance.
Das ist der dümmste Begriff, den es überhaupt gibt. Wir haben nur ein Leben, die Arbeit ist ein Teil davon. Ich wünsche Lehrlingen, dass sie einen Beruf gewählt haben, der ihnen Spass macht.
Könnte die Politik etwas gegen die Lage unternehmen?
Der Bund müsste Zweitausbildungen auf dem Berufsweg finanzieren. Ein Lehrgang für Quereinsteiger kostet rund 29'000 Franken. Derzeit fliessen aber 80% der Gelder in die Hochschulbildung, obwohl 80% der Menschen eine Berufsbildung absolvieren. Das verstehe, wer will.
Können Sie mit dem Verband nicht Druck ausüben? Die Lage ist offensichtlich katastrophal.
Wir können als Verband nur immer wieder darüber sprechen und auf die Möglichkeiten aufmerksam machen, bis die Politik etwas unternimmt. Leider haben wir keine wirkliche Lobby in Bern, zumindest wenn man unseren Einfluss an der Wirtschaftsleistung der ICT-Branche misst.
Gibt es auch Erfolge zu melden?
Die neue Lehre "Digitales Business" stösst auf ein riesiges Bedürfnis. Im Kanton Zürich hoffe ich auf 50 bis 60 zusätzlich Ausbildungsplätze. Schweizweit erhalten wir ähnliche Signale.
Aber das ist ein Tropfen auf den heissten Stein, es braucht allein in Zürich 800 neue Lehrstellen bis 2025, um den Bedarf abzudecken. Tun sie nicht zu wenig?
Wir rufen 150 Firmen pro Monat an, um sie für einen ICT-Ausbildungsplatz zu begeistern. Davon laden uns rund 5 bis 8 Unternehmen zu Gesprächen ein und wenn dann tatsächlich eine neue Lehrstelle geschaffen wird, geht es nochmals mindestens ein Jahr.
Das klingt äusserst schleppend. Wer schafft denn die Ausbildungsplätze?
KMU machen rund 70% aus, 30% die Grossen. Und eigentlich müsste man für diese jeweils verschiedene Wege einschlagen. Aus den Konzernen heisst es bei KMU-Lehrlingen oft, die hätten kein Tiefenwissen in spezifischen Technologien. In den kleineren Firmen beschweren sich die Chefs hingegen, dass Absolventen bei Grossfirmen bloss einen kleinen Ausschnitt der Aufgaben beherrschten.
Die Pandemie hat auch nicht gerade geholfen, die Lage zu entspannen.
Onlineunterricht funktioniert bei Jugendlichen nicht. Junge Menschen brauchen dringend die soziale Interaktion und den Austausch. Lehrlinge in den ersten beiden Jahren müssen zwingend vor Ort ausgebildet werden, danach können sie eventuell einen Tag Homeoffice machen. Wir hören aber aus den Betrieben, dass dies gar nicht rege genutzt werde.
Führt das zu Problemen?
Wir sehen derzeit viel mehr junge Leute, die ein Motivationsproblem haben und in psychologischer Begleitung sind. Ob das wegen der Pandemie ist, kann ich aber nicht beurteilen.
Hat sich in den Pandemiejahren in den Firmen etwas verändert?
Wir haben jetzt schon mehrfach gehört: "Entschuldigung, wir haben die Büroräume gekündigt und können jetzt keine Lehrlinge mehr ausbilden". Sollte sich die hybride Arbeitswelt durchsetzen, müsste man über neue Ausbildungswege nachdenken.
Das klingt nicht besonders ermutigend, wo stehen wir in 10 Jahren?
Ich kann nicht in die Glaskugel schauen, was ich aber sagen kann: Es wird noch mehr neue Berufe im Digitalisierungsumfeld geben. Über die Hälfte der heutigen Kinder in den Kindergärten werden einen Job lernen, den es noch gar nicht gibt.