Die Rolle des Staates bei Kernaufgaben war bei Stimmbürgern immer wieder umstritten: 35,6% waren 1989 für die Abschaffung der Armee und 35,6% waren dieses Wochenende für das E-ID-Gesetz.
Auch wenn die Abstimmungen nicht vergleichbar sind, zeigt sich eines deutlich: Das Resultat ist ein Debakel für die Mehrheit des Parlaments, des Bundesrats, viele Kantonsregierungen und die Konzerne hinter Digitalswitzerland und SwissSign.
Ein kleiner Verein namens “Digitale Gesellschaft” drehte die erste Digitalisierungs-Abstimmung der Schweiz in ein "Nein", unterstützt von SP, Grünen, Piratenpartei, VPOD, Internet Society Switzerland, Verein Public Beta,
Grundrechte.ch sowie Seniorenorganisationen.
Es gibt gleich mehrere Gründe, warum das Nein so wuchtig ausfiel. Eine Vorlage, formuliert von digitalen Amateuren, eine inhaltsleere Ja-Kampagne und die Realitätsverweigerung von Managern und Politikern.
Die Vorlage, an sich schon komplex, bot den Gegnern sehr viele Angriffspunkte – von der Rolle des Staates bis zum Term "E-ID" für eine winzige Ecke der digitalen Welt, von der Geheimniskrämerei beim Inhalt der Verordnung bis hin zur Sicherheitsarchitektur.
Die Ja-Kampagne startete zudem sehr spät, und sie war von A-Z schlecht durchdacht. So konnten die Gegner die Unklarheiten und Unsicherheiten der Vorlage geschickt ausnutzen und die Ja-Sager hatten nichts Überzeugendes entgegenzusetzen. "Es ist nur ein Login", sagte Bundesrätin Karin Maria Keller-Sutter. Jeder benötige künftig weniger Passworte, hiess es. Ohne das Gesetz gibt es einen föderalistischen "E-ID-Flickenteppich" schrieben Gemeinden, während andere Befürworter den Anbieterwettbewerb lobten. "Der Staat ist kein Digitalisierungsspezialist", warben Digitalswitzerland und andere.
"Wozu das Login, wenn es doch Amazon-, Instagram-, Airbnb- und Paypal-Logins nicht ersetzt?", fragten die Gegner. Muss ich bei einem Anbieter-Wettbewerb eine E-ID evaluieren? Und wer erhielt die verlochten Informatik-Millionen des Staats als Honorare? Private Schweizer Firmen, die sich als Digitalisierungsspezialisten definieren. Und wie soll der als digitaler Analphabet bezeichnete Staat denn die komplexe, private Technologie kontrollieren?
Bei solchen Fragen machten viele Abstimmende eine persönliche Kosten-Nutzen-Rechnung und kamen zum Schluss, die Kosten und Risiken seien ihnen zu hoch.
Vollkommen überflüssigerweise schürte das Ja-Lager gleichzeitig das Misstrauen gegenüber den führenden Technologiefirmen. Ruedi Noser, Ständerat und Inhaber der Firma, welche
laut 'Republik' die SwissID gebaut hat, warnte via Digitalswitzerland gar
vor den Ausländern Google und Co.
Damit eröffnete sich eine neue Front: Wer ist die bedrohlichere Datenkrake – Google oder eine Schweizer Grossbank? Facebook oder meine Krankenkasse? Auch diese Debatte konnte das Ja-Lager nicht gewinnen. Im Gegenteil, das Ja-Lager schürte das seit Jahren in allen politischen Lagern vorhandene Misstrauen gegenüber der Digitalisierung noch.
Digitalswitzerland, anfangs als CEO-Gewerkschaft für das Digitalzeitalter oder Rotary-Club der Digitalisierungsverlierer verspottet, hat mit ihrem "Digitaltag" die Vorbehalte gegenüber Automatisierung, Big Data oder KI nie ernsthaft thematisiert, sondern Technologie-Chilbis organisiert. Nun erhielt die Vereinigung, welche auch den IT-Dachverband ICTswitzerland aufsog, die deutliche Quittung für ihre Realitätsverweigerung.
Leider. Die Befürworter hätten eine dringend nötige, ernsthafte Digitalisierungsdebatte fördern und führen können über die Chancen des "digitalen Ich" und über das riesige Potenzial für Kostenreduktionen beim Staat: "Das im Jahr 2030 mögliche Einsparpotenzial sieht eine Studie des Beratungskonzerns McKinsey für unterschiedliche Länder bei 3 bis 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts", schrieb
die 'Süddeutsche Zeitung' kürzlich.
Nie wäre die Zeit besser gewesen für eine solche Debatte als gerade jetzt. Der Nutzen der Digitalisierung bewies sich in der Pandemie mit Homeoffice und Online-Shopping eindrücklich und dies ohne Schweizer "E-ID".
Aber es sollte nicht sein. Stattdessen jammern die Verlierer faktenfrei von einem "Rückstand gegenüber dem Ausland". Noch verblüffender: Aus Sicht des Marktführers SwissSign hätte es dieses E-ID-Login-Gesetz und die Abstimmung überhaupt nicht gebraucht. "Die SwissID ist von diesem Entscheid nicht tangiert: Sie bleibt als sichere digitale Identifikationsmöglichkeit in ihrer heutigen Form bestehen."
Was nun? Die Liechtensteiner Lösung übernehmen? Einen speziellen Chip mit der nächsten Generation von Identitätskarten lancieren? Eine Self-Sovereign Identity mit einem Wallet auf DLT-Basis einführen? Es gibt unterschiedliche Lösungen, für die Grundlagen-Arbeiten schon gemacht wurden.
In Kürze wollen SP und GLP Vorstösse für eine rein staatliche E-ID einreichen. Es liegt an ihnen, den Bürgerlichen und dem Bundesrat einen Crash-Kurs in Digitalisierung zu geben.
Vielleicht öffnet sich dem Staat und den Konzernen dank dem "Nein" eine neue Tür: Die SwissSign-Besitzer könnten die Firma in Staatshände übergeben. Dies läge im Interesse der Konzerne und dem Bund, die nun einen vertretbaren Preis aushandeln können. Das Google-freie Produkt SwissID "Made in Switzerland" könnte Bern mit Hilfe der Wirtschaft für das revidierte Eidas weiterentwickeln und EU-tauglich ausgestalten.
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