DSI Insights: Games zwischen Alltag und Wissenschaft

13. März 2023 um 08:54
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Hiloko Kato

Der durchschnittliche Gamer ist 30 Jahre alt. Es ist an der Zeit, digitale Spiele in Wissenschaft und Öffentlichkeit anzugehen, findet Hiloko Kato, Chair der DSI Community Gaming.

Digitale Spiele sind in unserem Alltag angekommen. Was lange Zeit als suspekte Beschäftigung randständiger Jugendlicher angesehen wurde, hat sich mittlerweile zu einer kollektiven Freizeitbeschäftigung entwickelt, die Generationen verbindet. Insbesondere durch die Pandemie wurde der soziale Faktor von Games ins Zentrum gerückt: Mit Kampagnen wie #Playaparttogether stellte die Gaming-Industrie grosse Titel kostenlos zur Verfügung. Sie unterstützte damit die Vorschriften der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die dazu aufrief, zu Hause zu bleiben. Zeit mit Freunden verbringen konnte man trotzdem: beim Gamen. Die Gaming-Industrie ist denn auch eine der wenigen Branchen, die trotz der Pandemie zulegen konnte, und hat inzwischen beim Umsatz bereits die Film- und Musikbranche hinter sich gelassen.
Bereits vor der Pandemie zockte Alain Berset mit Schweizer Entwicklern an der Gamescom und auch Altbundeskanzlerin Angela Merkel strich offiziell die Bedeutung von digitalen Spielen als Innovationsmotor und Kulturgut hervor. In einer digitalen Kultur, bei der transmediale Formen eine einflussreiche Rolle einnehmen, spielen Games eine immer prominentere Rolle: Sie sind nicht mehr nur Transmedia-Ergebnisse wie bei Hogwarts Legacy, The Witcher oder Tom Clancy's Rainbow Six Siege. Vielmehr werden sie selbst zum Ausgangsmedium von Adaptationen für Filme und Serien wie Assassin’s Creed, Uncharted, Arcane oder The Last of Us zeigen. Bekannte Popstars wie Little X Nas’ produzieren Hymnen für E-Sports-Weltmeisterschaften und Airlines lassen ihre Flugzeuge mit Pikachu bedrucken. Darüber hinaus sammeln das Museum of Modern Art und das Literaturarchiv in Marbach digitale Spiele seit 2012 beziehungsweise seit 2019. Diesen Brückenschlag zu den Künsten zeigt zurzeit die Ausstellung Game Design Today im Museum für Gestaltung in Zürich.

Vom gefährlichen Stiefkind zum wissenschaftlichen Objekt

Die Entwicklung bei der Rezeption digitaler Spiele über die letzten Jahrzehnte hinweg stellt ein bekanntes Phänomen dar, welches neue Medien durchlaufen, wenn sie sich in einer Gesellschaft etablieren: Man sieht sie zunächst als Konkurrenz zu den bisherigen Medien und als Beweis dafür, wie althergebrachte Werte in Gefahr sind. Dies war bei Radio, Film und Fernsehen nicht anders und wurde auch bei der Literatur ausgehandelt (zum Beispiel mit der gefährlichen Lesesucht, satirisch vorgeführt bei de Cervantes Don Quijote). Bei digitalen Spielen widerspiegelt sich diese kritische Haltung insbesondere in den Medienberichten um Shooter-süchtige Amokläufer und ebenso in der Wissenschaft, wo besonders in den 2010er Jahren dominant über die Verbindung zwischen Gamen und Aggression geforscht wurde.
Sicherlich sind diese kritischen Stimmen nicht nur wegen den teilweise problematisch-einseitigen Fragestellungen und uneindeutigen Ergebnissen zurückgegangen, sondern auch wegen der Tatsache, dass Forschende mittlerweile selbst mit digitalen Spielen aufwachsen und sich mit ihrem Untersuchungsobjekt tatsächlich auseinandergesetzt haben. So hat die wissenschaftliche Literatur zu den positiven Effekten von digitalem Spiel stetig zugenommen. Sie reichen von kognitiven Aspekten wie schnellerem Reaktionsvermögen oder ganzheitlicherer Wahrnehmung über motivationale Vorteile beim Lernen bis zu einem emotionalen Benefit durch die Möglichkeit, über Online-Spiele ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Community zu entwickeln.
Trotz dieser positiven Aufbruchstimmung sollten auch die negativen Seiten von Games nicht kleingeredet werden. Seit 2015 ist Gamesucht im ICD-11-Kompendium (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der WHO kategorisiert und wird oftmals mit Glücksspielsucht in Verbindung gebracht. Eine besonders dunkle Seite von digitalem Spiel ist insbesondere in der Online-Spielwelt zu finden: Manche Spiel-Communities, vor allem im kompetitiven E-Sports-Bereich, sind geprägt von negativem Verhalten, Toxizität und Frauen- wie LGBTQ-Feindlichkeit. Solche Themen sind ein ernst zu nehmendes Problem, das bislang immer noch von nur wenigen Game-Studios ernsthaft angegangen wird. Mit automatisierter Texterkennung und sofortigem Spielausschluss wird zwar bei gewissen Spielen wie League of Legends gegen verbale Belästigung und Hassreden vorgegangen, jedoch entwickeln die Spielenden ihrerseits wiederum kreative Lösungen, um diesen Massnahmen zu entgehen. Zum Beispiel, indem sie etwa Buchstaben durch Zahlen ersetzen. Hier zeigt sich, wie toxisches Verhalten kaum an Aktualität verliert und beinahe zum festen Bestandteil gewisser Spielkulturen zu gehören scheint.
Digitale Spiele animieren Teilnehmende immer wieder zum Spielen, trotz dieser negativen Aspekte, den rigiden Regelwerken und den zum Teil unmöglich erscheinenden Challenges. Spiele-Titel der grossen Gamestudios versuchen natürlich, die Erwartungen der Spielenden zu übertreffen, indem sie mit Open World Szenarien und multiplen Enden aufwarten. Spielerinnen und Spieler können hyperrealistische Welten erleben und erhalten endlose Explorationsmöglichkeiten oder ein Versprechen nach absoluter Entscheidungsfreiheit. Digitale Spiele sind aber immer noch vordesignte Artefakte, in denen sozusagen jeder Schritt vorprogrammiert ist. Dies wird nicht zuletzt dann klar, wenn der Spielverlauf beispielsweise ohne Folter nicht fortgesetzt werden kann oder wenn statt multipler Story-Enden schlussendlich nur zwei Alternativen existieren. Indie-Spiele und solche von kleinen Entwicklungsstudios bergen oftmals mehr Potenzial, um diesen Fragen nach der Handlungsmacht von Spielenden und vom Spiel selbst nachzugehen, wie dies etwa bei Stanley Parable oder Kids vorgeführt wird. Digitale Spiele sind in diesem Sinne Medienangebote, die höchst sorgfältig zwischen Erwartungen und Möglichkeiten austariert werden müssen, um motivierend zu bleiben.

Das Potenzial von digitaler Spielforschung

Motivationstechniken digitaler Spiele sind jedoch, wenn sie greifen, hochgradig erfolgreich. Dies machen sich in letzter Zeit Bereiche zunutze, wo komplexes oder repetitives Wissen vermittelt werden muss. Sprachlern-Apps etwa arbeiten mit simplen Gamification-Elementen wie Belohnungssystemen oder mit dem aus dem Schach entlehnten Elo-System (Erstellung einer Rangliste nach Spielstärke der Teilnehmenden). Digitale Spiele bieten gamemechanisch jedoch viel mehr als nur Pokale und Gold/Platin-Plaketten: Stärker gamebasiert als diese einfachen Belohnungssysteme und Sammlungsmotivierung sind Playification-Elemente. Zum Beispiel narrativ-angelegte Fortschritts-Belohnungen, die wie filmische Szenen in digitalen Spielen funktionieren oder rundenbasierte Rollenspiel-Elemente, bei denen auch die Bindung an die Lernwelt durch den eigenen Avatar und mithilfe von anderen virtuellen Charakteren verstärkt wird.
Genau solche Ansätze werden auch in den Wissenschaften rund um das Thema Wissensvermittlung eingesetzt. Der gesamte Bereich von Game-basierten Forschungs-Ansätzen, zu denen auch sogenannte Serious Games gehören, nutzt Einsichten aus dem Game Design, um digitale Spiele zu entwickeln, die nicht primär dem Zeitvertreib dienen, sondern "ernsthafte" Inhalte vermitteln. Dieser wissenschaftliche Bereich wird ergänzt durch die Forschungsbereiche der Game Studies, die sich mit der Charakteristik und dem Einfluss von digitalen Spielen auf unsere Gesellschaft und Kultur auseinandersetzen. Zu der hier stark vertretenen medien-, filmwissenschaftlichen und psychologischen Forschung sind mittlerweile auch kulturwissenschaftliche und interaktionsanalytische Untersuchungsansätze hinzugekommen. Letztere untersuchen etwa, wie Spielende in Multiplayer-Games miteinander kommunizieren und interagieren oder wie sie reagieren, wenn sie in einer ihnen noch unbekannten Virtual Reality-Spielumgebung agieren sollen.

Zürich als Hub für die Produktion wie Rezeption von digitalen Spielen

Vor diesem vielfältigen Hintergrund wird deutlich, was für ein Potenzial digitale Spiele für die wissenschaftliche Forschung und interdisziplinäre Wissensvernetzungen bieten. Die DSI Community Gaming, die von der Digital Society Initiative der Universität Zürich gefördert wird, hat sich zum Ziel gesetzt, Forschende, die zu und mit digitalen Spielen arbeiten, zusammenzubringen und zu vernetzen. Damit soll der Austausch gefördert und innovative Projekte lanciert werden. Insbesondere im Wirtschaftsraum Zürich, wo nicht nur Firmen wie Google, Meta und Disney vertreten sind, sondern auch das ETH Game Research Center und die international anerkannte Schmiede des Schweizer Game Designs an der Zürcher Hochschule der Künste angesiedelt sind, liegt es auf der Hand, eine solche Plattform zu bieten. Ebenso soll die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem neuen und einflussreichen Medium auch im Austausch mit der Öffentlichkeit stehen.
Eine solche Form der Öffentlichkeitsarbeit lanciert die DSI Community Gaming mit der Zentralbibliothek Zürich: Ab Ende März werden in einer öffentlichen Veranstaltungsreihe mit dem Titel Games in Context in regelmässigen Abständen Vorträge und thematisch daran ausgerichteten Workshops mit renommierten Forschenden aus dem In- und Ausland, Vertreterinnen und Vertreter der lokalen Gamebranche sowie weiteren Kennern der Game-Szene stattfinden. Ein erklärtes Ziel dieser Veranstaltungsreihe ist der Aufbau einer Community mit Teilnehmenden, die sich für das moderne, aber immer noch unterschätzte Thema der digitalen Spiele interessieren und sich im gegenseitigen Austausch mit den vielfältigen Aspekten auseinandersetzen wollen.

Über die Autorin

Dr. Hiloko Kato ist Sprachwissenschaftlerin und forscht zu sprachlicher Interaktion in digitalen Spielen. Ihr besonderes Augenmerk liegt dabei in der Hervorbringung von Agency, also Handlungsmacht der Spielenden wie auch des Spiels selbst, etwa in Form von virtuellen Charakteren. Zudem untersucht sie die hellen und dunklen Seiten digitaler Spiele und fasst sie als Schauplätze auf, in denen unsere moderne Kultur ausgehandelt wird. Sie ist ausserdem Chair der DSI Community Gaming an der Universität Zürich.

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