Zwar ist die Digitalisierung schon seit geraumer Zeit omnipräsent, aber durch Corona erleben wir gegenwärtig einen in dieser Weise nicht erwarteten Veränderungsschub. Das hat auch Folgen für die Institutionen der Bildung, insbesondere in deren tertiärem Bereich.
Während sich die Schulen im primären und sekundären Bereich derzeit vordringlich mit didaktischen und praktischen Problemen der Einführung und Gestaltung von Online-Lernen beschäftigen, könnte bei den Institutionen des tertiären Sektors, den Hochschulen und hier besonders bei den Universitäten, darüber hinaus nichts weniger als ein Paradigmenwechsel bevorstehen, da sie nicht nur Objekt, sondern in besonders sichtbarer Weise auch Subjekt der Digitalisierung sind.
Zudem geht es bei ihnen per definitionem nicht nur um Lehre, sondern auch um Forschung und Entwicklung. Das bedeutet, dass hier auch und gerade die bis auf den heutigen Tag das Selbstverständnis der europäischen Universität bestimmenden und auf Wilhelm von Humboldt zurückgehenden Leitideen der "Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden", der "Einheit von Lehre und Forschung" sowie von "Einsamkeit und Freiheit" auf dem Prüfstand stehen.
Die "Virtuelle Universität" rückt in den Fokus
Allerdings haben in den letzten Jahrzehnten zwei Entwicklungen diese Ideen bereits in Frage gestellt: zum einen der sogenannte "Bologna-Prozess", zum anderen die Entstehung dessen, was man "Virtuelle Universität" genannt hat. Während die unter dem Namen "Bologna" erfolgten eingreifenden strukturellen Veränderungen des Hochschulstudiums in Europa die Diskussion beherrschten, hat die virtuelle Universität in ihrem Schatten und noch bis vor kurzem medial nahezu unbemerkt Gestalt angenommen; durch Corona ist sie unversehens aus der Randlage in den Fokus des Interesses gerückt worden, vermittelt durch die zunehmende Bedeutung der Digitalisierung.
Nun hatte der Begriff "Virtuelle Universität" (virtual university) ursprünglich gar nichts mit Digitalisierung zu tun. Vielmehr waren damit Einrichtungen der tertiären Bildung gemeint, die in dem Sinne nicht "real" waren, dass sie nicht über einen eigenen Campus, eigene Gebäude etc. verfügten. Den wichtigsten gedanklichen Hintergrund dafür bildete seit den 1960er-Jahren die Kritik am institutionalisierten Schulsystem. Bereits 1971, ein Vierteljahrhundert vor dem Internet, hatte der einflussreiche kritische Theologe und Philosoph Ivan Illich in seinem Buch "Deschooling Society" (dt. "Entschulung der Gesellschaft. Eine Streitschrift") die Entschulung der Gesellschaft an die Nutzung von "advanced technologies" zur Unterstützung von Netzwerken geknüpft.
Am Anfang standen die Fernuniversitäten
Ihren institutionellen Niederschlag fand die Idee einer virtuellen Hochschule in der Einrichtung von Fernuniversitäten ("Open University" bzw. "University of the Air"), deren Philosophie sich in ihrem Motto "Study Anywhere Anytime" oder "Whenever, Wherever, Whoever" ausdrückt, gekoppelt mit der Verbindung von "distance education" mit "continuing education", wodurch die im deutschen Sprachbereich übliche scharfe Trennung von "grundständigem Studium", "Aufbaustudium" und "Weiterbildung" überbrückt wird.
Damit ist auch bereits die Aufhebung einer weiteren scharfen Trennung im traditionellen Hochschulsystem angesprochen, derjenigen von Wissenschaft und Wirtschaft. Eine räumlich-zeitliche Entflechtung wird nämlich dort immer wichtiger, wo sich Lehrende und Lernende nie oder nur selten zur selben Zeit am selben Ort aufhalten. Gemeint sind die seit den 1990er-Jahren entstandenen "Corporate Universities" insbesondere globalisierter Unternehmen. Von diesen könnten übrigens – zumal in Corona-Zeiten – die klassischen Präsenzhochschulen, die sich auf dem Gebiete der Weiterbildung und des berufsbegleitenden Lernens ohnehin immer schwer getan haben, gerade in der digitalisierten Virtualität des "blended learning" viel lernen.
Distanzhochschulen sind kein Zustand, der vorüber geht
Kurz: durch die zunehmende Digitalisierung der Hochschulen entsteht so etwas wie eine virtuelle Universität zweiter Ordnung, und der beschleunigende Einfluss, den nun Corona auf diesen Prozess hat, kann zunächst einmal negativ so ausgedrückt werden: Während es in vor-Corona-Zeiten noch möglich war, die institutionellen Differenzen der Hochschulen u.a. an dem Masse festzumachen, in dem sie sich durch Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden im Präsenzmodus definierten, ist dies in und nach Corona nicht mehr möglich.
In gewissem Sinne sind auch die klassischen Präsenzhochschulen bereits jetzt zu einem grossen Teil zu virtuellen Distanzhochschulen, eben zu virtuellen Universitäten zweiter Ordnung geworden. Und die scheinbar tröstliche Annahme, dass dies ein zwar beklagenswerter, aber doch vorübergehender Zustand sei, ist angesichts der realistischen Planung der näheren Zukunft sowohl unzutreffend als auch schädlich. Wir laufen damit nämlich Gefahr, die Chance zu verpassen, uns ernsthaft nach den mehr oder weniger wünschenswerten virtuellen Aspekten von Lehre, Forschung und Entwicklung zu fragen.
Vor Corona war dies fast eine Luxusfrage, bei der es darum ging, welche Arten von digitaler Unterstützung wir uns in Lehre, Forschung und Entwicklung wünschen oder leisten wollten. Dank Corona sind wir nun in der Situation, uns die umgekehrte Frage stellen zu müssen, wie viel reale Präsenzuniversität wir uns in einer virtuell werdenden Universität noch leisten können.
Sind virtuelle Universitäten den klassischen überlegen?
Bezüglich der Forschung geht es dabei vorwiegend um die Frage der Einlösung der Evidenzbedingung ("evidence based knowledge") und die damit zusammenhängende experimentelle Validierung unter Digitalisierungsbedingungen. Einen vielversprechenden Weg hierzu scheint die schon jetzt sowohl in der klassischen Präsenzuniversität als auch in der virtuellen Universität erster Ordnung zunehmend zum Einsatz kommende Rechnersimulation darzustellen.
Das gilt in noch weit stärkerem Masse für den Kontext der Entwicklung. Hier könnte sich die Virtuelle Universität zweiter Ordnung derjenigen der ersten Ordnung und derjenigen der klassischen Universität sogar als überlegen erweisen, da sich das Innovationskriterium des Erfolges am Markt (Schumpeter) ohnehin nur durch Simulation und nicht durch klassische Theorie ex ante einschätzen lässt.
Welche Elemente der klassischen Universitätsidee Humboldts bleiben also unter Corona-Bedingungen erhalten, und wie verändern sie sich?
- Das Postulat der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden ist durch die Digitalisierung ernsthaft gefährdet. Ob und wie eine virtuelle Universität zweiter Ordnung diese Bedingung überhaupt noch erfüllen kann, wird unter andauernden Corona-Bedingungen in den kommenden Jahren noch zu prüfen sein.
- Das Postulat der Einheit von Lehre und Forschung erhält bereits jetzt eine neue Bedeutung dadurch, dass nun in beiden Aspekten universitärer Bildung das digitale Moment an Bedeutung gewinnt. Das gilt von den derzeit praktizierten Übergangsformen der Präsenz- zur Distanzlehre über den Einsatz von Avataren in der Lehre bis hin zur Ersetzung klassischer Experimente durch Simulationen in der Forschung und Entwicklung.
- Die Idee von Einsamkeit und Freiheit schliesslich nimmt eine geradezu beklemmende Wendung: Es kann keine Frage sein, dass die bisherigen Erfahrungen mit universitärer Lehre, Forschung und Entwicklung unter Corona-Bedingungen nicht nur Einsamkeit, sondern geradezu Vereinsamung fördern. Mit der akademischen Freiheit ist es schon aufgrund der bereits angesprochenen Veränderungen durch den Bologna-Prozess nicht mehr weit her. Es droht die Degeneration dieses Humboldt-Kriteriums zu einem Zustand der Vereinsamung und Unfreiheit.
Das Projekt "Rekursive Digitalisierung"
Die weitere Ausarbeitung und Konkretisierung des skizzierten Paradigmenwechsels ist Gegenstand des Projekts "Rekursive Digitalisierung: Die zweite Virtualisierung der Hochschulen (RD2VH)", das der Philosoph und langjährige Präsident verschiedener privater und öffentlicher Universitäten Walther Ch. Zimmerli, Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, derzeit als
Research Fellow der DSI bearbeitet.
Mit den hiermit zusammenhängenden Fragen, aber auch mit Best-Practice-Fallstudien befasst sich auch ein in Kooperation mit der DSI und dem Center for Higher Education and Science Studies der Universität Zürich organisierter
Workshop "Die rekursive Digitalisierung der Hochschulen", der am 23. und 24. Oktober 2020 in den Räumlichkeiten der DSI an der Rämistr, 69, 8001 Zürich (SOC-E-109) stattfindet.
Über den Autor:
Walther Ch. Zimmerli ist Philosoph, Honorarprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin und derzeit DSI-Fellow an der Universität Zürich. Er hatte von 1978 bis 1999 Lehrstühle für Philosophie an der TU Braunschweig, an der Universität Bamberg sowie Marburg inne, bevor er 1999 Präsident der Universität Witten/Herdecke und 2002 als Mitglied des Topmanagements Gründungspräsident der AutoUni des Volkswagenkonzerns sowie 2007 Präsident der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus wurde.
Unter "DSI Insights" äussern sich regelmässig Forscherinnen und Forscher der "Digital Society Initiative" (DSI) der Universität Zürich. Die DSI fördert die kritische, interdisziplinäre Reflexion und Innovation bezüglich aller Aspekte der Digitalisierung von Wissenschaft und Gesellschaft.