Um die Umwälzungen der Digitalisierung für das Gesundheitswesen besser verstehen zu können, lohnt sich der Blick zurück. Erinnern wir uns daran, dass noch vor rund 200 Jahren kaum etwas von den heute enorm scheinenden Möglichkeiten der modernen Medizin zur Diagnose und Therapie von Krankheiten verfügbar war. Doch medizinisches Handeln reicht Jahrtausende zurück, wie historische Quellen belegen. Aber was tat denn eine Medizin, die nach heutigen Massstäben nichts konnte? Die Antwort ist: sie fokussierte auf die Gesundheit, nicht auf die Krankheit. Denn wenn die Krankheit – ob Infektion oder Krebs – einmal da war, waren die Möglichkeiten der früheren Heilerinnen und Heiler äusserst begrenzt. Nicht zufällig steht die Forderung, wonach der Arzt dem Patienten nicht schaden solle, im Zentrum des Hippokratischen Eids.
Der griechische Arzt Hippokrates von Kos (460-370 vor Christus) prägte die sich damals entwickelnde Vorstellung mit, dass der Mensch seine Gesundheit zu einem erheblichen Grad mitbestimmen könne und dafür auch Verantwortung zu übernehmen habe. Gesundheit wurde als ein Zustand von Gleichgewicht, Harmonie und innerer Stabilität angesehen, der durch eine bestimmte Lebensführung zu beeinflussen ist. Und das Ziel des medizinischen Handelns war es, diesen Zustand der Gesundheit möglichst zu bewahren.
Die naturwissenschaftliche Revolution, welche ab dem 19. Jahrhundert die Medizin entscheidend prägte, änderte diese Fokus. Die Mechanismen von Krankheiten wurden zunehmend erkannt und darauf basierend entwickelten sich Diagnostik und Therapie in ungeahntem Tempo. Die Krankheit – ihre Erkennung und Behebung – rückte in den Fokus des ärztlichen Handelns. Zweifellos war der Erfolg dieser Strategie enorm gross. Infektionen wurden beherrschbar, selbst Krebs verlor in manchen Fällen seinen Schrecken. Doch parallel zu diesen Erfolgen gewinnen chronische, systemische und komplexe Krankheiten wie Diabetes, psychische Störungen oder Demenzerkrankungen an Gewicht. Dies sind Gesundheitsstörungen, bei denen der Fokus auf Symptome nicht mehr weiterhilft. Gleichzeitig haben sich die Vereinten Nationen im Rahmen von 17 nachhaltigen Entwicklungszielen darauf verständigt, bis 2030 dafür zu sorgen, dass Gesundheit und Wohlbefinden für alle Menschen in der Bevölkerung nachhaltig sichergestellt wird. Wie kann das geschehen?
Die Antwort kann man als eine Art Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ziele der Medizin verstehen. Denn die Weltgesundheitsorganisation hat in ihrer neusten Definition von Gesundheit die dynamische Stabilisierung der funktionalen Fähigkeiten von Menschen in ihrem realweltlichen Kontext in den Mittelpunkt gestellt. Das ist ein Paradigmenwechsel weg vom Symptomfokus und hin zu einem Gesundheitsverständnis, dass im Alltag der Menschen gemessen und verbessert werden kann.
Diese Refokussierung auf die Gesundheit geschieht aber unter Einbezug modernster Mittel. Denn dieser Paradigmenwechsel verlangt auch nach neuen Daten, die für die Gesundheitsversorgung wichtig sind: Die von ganz normalen Personen gesammelten Gesundheitsdaten aus ihrem Alltag, die sie mit Hilfe von Smartphones und Sensortechnologie sammeln können, werden damit massiv aufgewertet. Werden diese kombiniert mit den bisher gesammelten, klassischen medizinischen Daten von Versicherungen und Kliniken, entstehen ganz neue Möglichkeiten der kontextualisierten Gesundheitsförderung und der objektiven Bemessung des Erfolgs von Behandlungen und Interventionen an ihren positiven Folgen im Alltag der betroffenen Personen.
Kombination von Daten verbessert Behandlung
Die Chancen für das Gesundheitswesen durch diese Kombination sind enorm: Es können preiswert und schnell individuelle und kontextualisierte Interventionen eingesetzt und auf ihre Wirkung überprüft werden, es können dadurch wesentlich grössere Effekte erzielt werden und für medizinische Entscheidungen liegen in jedem Einzelfall wesentlich genauere und verlässliche Informationen vor. Die systematische Behandlung von chronisch mehrfach erkrankten, multimorbiden, Personen liesse sich durch die Datenkombination enorm verbessern. An die Stelle von generellen Empfehlungen, die für die grosse Zahl völlig unterschiedlicher Symptomkombinationen selten zutreffend sind, treten evidenzbasierte Entscheidungen für den Einzelfall.
Dies funktioniert aber nur, wenn eine ganze Reihe von Problemen gelöst werden. Regulatorisch müsste es möglich sein, in hoher Dichte gemessene Daten, die kaum noch anonymisierbar sind, für den Zweck der Gesundheitsförderung überhaupt nutzen zu können. Dazu benötigt es auch neue technische Lösungen für eine verantwortungsvolle Gesundheitsforschung, da der grösste Teil der wichtigen Gesundheitsdaten – nämlich jene der Einzelpersonen selbst – so organisiert werden, dass auch zu jeder Zeit und im Einzelfall jede Person über die Freigabe der Daten für Forschungs- oder Anwendungszwecke entscheiden kann. Dies sind lösbare Aufgaben. Benötigt wird auch eine Investition in die digitale Gesundheitsbildung der Bevölkerung, damit alle in der Gesellschaft beim wichtigen Thema Gesundheit kompetent mitentscheiden können.
Eine Investition in die Klärung der Rahmenbedingungen für die Kombination von individuellen Aktivitätsdaten und klinischen oder Versicherungs-Datensätzen würde einen neuen Wettbewerb für Lösungen ankurbeln, die im Einzelfall nachweislich effiziente Interventionen ermöglichen. Dies wäre dann auch ein Paradigmenwechsel in der Gesundheitsforschung, der die Effizienz und praktische Wirkung von Forschung für die Versorgung massgeblich steigern würde. Dies hätte insbesondere im Bereich der chronischen Mehrfacherkrankungen ein riesiges, auch wirtschaftliches Potenzial. Doch nicht genug. Wir wären zurück beim alten, antiken Ideal von Gesundheit als ein Zustand von Gleichgewicht, Harmonie und innerer Stabilität – freilich ermöglicht durch eine Digitalisierung des Gesundheitswesens, die dem Einzelnen Kontrolle und Nutzung der eigenen Daten ermöglicht. (Mike Martin)
Über den Autor:
Mike Martin ist Professor für Gerontopsychologie und Vorsitzender des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich. Er leitet den Universitären Forschungsschwerpunkt "Dynamik Gesunden Alterns" und ist Mitglied des Direktoriums der UZH Digital Society Initiative.
Über diese Kolumne:
Unter "DSI Insights" äussern sich regelmässig Forscherinnen und Forscher der "Digital Society Initiative" (DSI) der Universität Zürich. Die DSI fördert die kritische, interdisziplinäre Reflexion und Innovation bezüglich aller Aspekte der Digitalisierung von Wissenschaft und Gesellschaft.