DSI Insights: Welche Ano­nymität ist hilf­reich?

31. Mai 2019 um 09:28
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DSI Fellow Eva Weber-Guskar geht der Frage nach, wie man dem Problem "hässlicher Rede" im Internet begegnen kann.

Lebendige Demokratie braucht einen öffentlichen politischen Diskurs. Dieser kann besser oder schlechter gelingen. Die Digitalisierung, vor allem das Internet, hat neue Medien und Praktiken der Kommunikation mit sich gebracht, in denen dieser Diskurs stattfinden kann. Dazu gehört die Online-Kommentarfunktion unter journalistischen Artikeln. Diese Funktion scheint einerseits wegen der breiten Partizipationsmöglichkeiten besonders geeignet, den demokratischen Diskurs zu fördern; andererseits scheint sie den Diskurs dabei auch auf spezifische Weise zu gefährden, und zwar insbesondere durch sogenannte "Hass-Kommentare". Wie kann man dem Problem "hässlicher Rede" im Internet begegnen, um den demokratischen Diskurs zu unterstützen? Dazu gibt es verschiedene Vorschläge. Unter anderem wird die Idee verfolgt, bei der Anonymität anzusetzen. Meist wird vorgeschlagen, sie aufzugeben. Man kann jedoch auch dafür argumentieren, sie in bestimmter Hinsicht zu erhöhen. Warum das und wie genau?
Damit der öffentliche Diskurs seine Funktion für die politische Meinungsbildung erfüllen kann, muss er bestimmten normativen Voraussetzungen genügen, die festlegen, wie er formal verfasst sein muss. Nicht jeder Streit auf der Strasse ist der politischen Meinungsbildung förderlich. Ein klassischer und hilfreicher Vorschlag für Bedingungen solcher Diskussionen findet sich in der Diskurstheorie von Jürgen Habermas (Habermas 1982/82).
In seiner Theorie des kommunikativen Handelns nennt er (grob zusammengefasst) die folgenden fünf Bedingungen: 1) Öffentlichkeit (gegen Intransparenz), 2) die Gleichverteilung der Kommunikationschancen (jeder hat Rederecht und muss angehört werden), 3) die Gewaltlosigkeit und Zwangsfreiheit des Argumentationsklimas, 4) Inklusion (kein Ausschluss von Betroffenen) sowie 5) die Aufrichtigkeit der Sprecher (um Manipulationen, Überredung und Trug zu vermeiden).
Online-Kommentare erfüllen die ersten beiden Bedingungen und die vierte ziemlich gut, Öffentlichkeit, Kommunikationschancen, Inklusion; die dritte aber offenbar nicht: es gibt jede Menge Beleidigungen, Beschimpfungen, verbale Aggressionen, in denen statt sachlicher Argumente Angriffe gegen Personen gestartet werden. Beispiele dafür finden sich genug. Die "Ich bin hier" auf Facebook geht an solche Orte im Internet, um mit sachlichen Argumenten Widerrede zu bieten. Die vierte Bedingung müsste unter dem eigenen Thema "Fake News" im Netz verhandelt werden.
Die Netiquette, also Kommentarregeln der Online-Zeitungen bilden diese Grundbedingungen recht gut ab. Angesichts der zahlreichen Verstösse gegen diese Regeln sind einige Zeitungen dazu übergegangen, die Kommentarfunktion wieder abzuschalten. Beim 'Spiegel' beispielsweise oder der' Süddeutschen Zeitung' kann man nur noch wenige ausgewählte Artikel kommentieren, auch die 'NZZ' hat im Sommer 2017 die Kommentarfunktion unter den Artikeln abgestellt. Wenn man aber Online-Kommentare für die politische Meinungsbildung relevant und wichtig findet, dann sollte man zunächst nach anderen Möglichkeiten des Umgangs mit den störenden Beiträgen suchen, anstatt sie gänzlich zu unterbinden. Aber ist in Online-Kommentaren die Wahrscheinlichkeit des Ausartens von Diskursen höher als in anderen Umgebungen, sodass es Grund für besonderen Handlungsbedarf gibt und wenn ja, wo sollte man ansetzen?
Man kann mindestens vier Aspekte unterscheiden, die zusammen dazu beitragen können, dass es in den Kommentarspalten häufig so rüde zugeht: 1) Geschwindigkeit, 2) Reichweite beziehungsweise Teilnehmeranzahl, 3) geringer Aufwand der Teilnahme und 4) Anonymität. Die hohe Geschwindigkeit des Austausches und der geringe Aufwand führen dazu, dass Kommentare häufig schnell, im Affekt ohne vorheriges Nachdenken abgegeben werden. Die grosse Reichweite und damit hohe Teilnehmerzahl kann zu Spiralen des Nachahmens führen. Hier spielen auch unbewusste konformistische Tendenzen des Menschen eine Rolle, die in der Sozialpsychologie erforscht wurden. Und schliesslich die Anonymität: Der Umstand, dass man nicht weiss, mit wem man es zu tun hat, und umgekehrt für sein eigenes Verhalten nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, stachelt zusätzlich an. Die Bedeutung und Auswirkung von Anonymität im Netz wird relativ viel untersucht und sehr kontrovers diskutiert. Speziell in Bezug auf Online-Kommentare konnte jedoch in einigen Studien gezeigt werden, dass es unter anonymen Bedingungen mehr verbale Gewalt gibt als unter nicht-anonymen Bedingungen (Santana 2014).
Da Reichweite, geringer Teilnahmeaufwand und indirekt auch Geschwindigkeit im Sinne der Diskursregeln nicht eingeschränkt werden sollten, bleibt die Anonymität, bei der man für eine Veränderung ansetzen könnte. Anonymität meint hier fehlende Identifizierbarkeit in einer sozialen Interaktion, sodass keine Erreichbarkeit über die bestimmte Situation hinausgegeben ist. Online reicht es dafür häufig schon aus, seinen Namen nicht zu nennen.
Doch es muss zwischen zwei Ebenen der Anonymität unterschieden werden: Man kann von einer oberflächlichen Ebene sprechen, auf der die soziale Interaktion stattfindet, z.B. im Interface einer Website. Tiefer gelegen ist die Ebene der IP-Adressen mit der Möglichkeit, Verbindungen nachzuverfolgen. Entsprechend kann man von einer horizontalen und einer vertikalen Anonymität sprechen, womit zwischen Anonymität in verschiedenen Beziehungen unterschieden wird (Thiel 2016). So kann man horizontal anonym sein, das heisst denjenigen gegenüber, mit denen man in konkreter sozialer Interaktion ist und die über die gleichen Mittel verfügen wie man selbst; dabei kann man aber vertikal unter Umständen nicht anonym sein, weil anderen Akteuren mit mehr Ressourcen und/oder Macht eine Identifizierung über den Kontext hinaus möglich ist (in der Regel sind das die Seitenbetreiber bzw. Verantwortlichen einer Plattform).
Im Netz werden vor allem zwei Effekte von Anonymität beobachtet: der so genannte Enthemmungseffekt und der Ehrlichkeitseffekt (Thiel 2016). Man verstösst eher gegen Regeln der Höflichkeit oder der Moral. Ein Grund dafür liegt nahe: unter Anonymität hat man keine grösseren Konsequenzen zu befürchten, weil man nicht über den engen Kontext hinaus identifiziert werden kann. Warum man unter anonymen Bedingungen ehrlicher ist, folgt der gleichen Logik, nur von einem anderen Ausgangspunkt: Man gibt leichter eine Schuld oder vermeintlich stigmatisierende Eigenschaften oder Meinungen zu – ebenfalls, weil man keine grossen Konsequenzen zu fürchten hat.
Anonymität hat einerseits wegen des Ehrlichkeitseffekts das Potenzial, Inklusion zu erhöhen. Andererseits hat es wegen des Enthemmungseffekts das Potenzial die Gewalt im Diskurs zu verstärken. Man könnte nun meinen, die Förderung der Inklusion, plus die Achtung der Privatsphäre, seien so wichtig, dass man Anonymität beibehalten sollte und sich eben alle Mühe der Moderation machen müsste, die wegen den häufigeren Diskursverstössen unter anonymen Bedingungen nötig ist. Doch wie gesagt haben vor dieser Mühe schon einige Redaktionen kapituliert.
Deshalb ist ein anderer Vorschlag der folgende. Ich nenne sie "totale Anonymität": Auf der sichtbaren Oberfläche gibt es weder Klarname noch Pseudonym, stattdessen gibt es nur noch Zahlen. Es bekommt jedoch nicht jeder Nutzer oder jede Nutzerin eine Nummer, sondern jeder einzelne Kommentar. Damit sind die Personen nicht nur in dem Sinn nicht identifizierbar, dass sie in anderen Kontexten unerreichbar sind. Sondern darüber hinaus sind sie auch im Moment gar nicht als Personen zu identifizieren, denen einzelne Kommentare zuzuordnen wären. Wichtig ist, dass es sich nur um totale horizontale Anonymität, aber keine totale vertikale Anonymität handelt. Die Seitenbetreiber sollen die Möglichkeit haben, Störenfriede mindestens über ihre IP-Adresse zu verfolgen, eher wäre sogar die Klarnamenpflicht bei der Anmeldung zu empfehlen. Damit wird hier nicht der Reiz einer perfekten Anonymität aufgebaut, wie man den Zustand beim Internetforum 2channel nennen könnte, der den Enthemmungseffekt tatsächlich eher fördert.
Auf diese Weise behält man die Vorteile der anonymen Diskussion: der Ehrlichkeitseffekt kann greifen und zur Inklusion führen, die Privatsphäre ist geschützt. Zugleich verändert man das Setting so, dass der Enthemmungseffekt tendenziell in die Leere läuft: Unter totaler Anonymität kann man sich zwar noch auf jeden einzelnen Kommentar beziehen, aber man sieht nicht mehr, welche Kommentare zu einer dahinterstehenden Person gehören. So kann man weniger gut einen Ärger auf eine Person aufbauen, dem man Luft machen möchte und kann sie weniger gut verfolgen. Für beides müsste man schon sehr genau die Sprache studieren und einer Person zuordnen können. Das ist so aufwändig, dass es mindestens manchen Handlungen aus dem Affekt vorbeugen würde. Ausserdem würde eine Motivation wegfallen, die sonst auch eine Rolle spielt: nämlich, sich in einen aggressiven Disput zu werfen, um sich darin zu profilieren, sei es aus narzisstischen Gründen oder mit implizit kathartischen Zielen. Pöbelnde Kommentare können leicht links liegen gelassen werden – ohne jedoch, das ist wichtig für die Inklusion, dass man damit jemanden ausschliessen würde, sobald er sich wieder mit einem inhaltlich relevanten Punkt einbringt. So könnten nicht so leicht durch Ausfälligkeiten online-Identitäten aufgebaut werden, sondern im Vordergrund stünden die inhaltlichen Argumente.
Das ist zunächst ein theoretischer Vorschlag, dessen Effektivität empirisch überprüft werden müsste. Und natürlich wäre es nur eine Massnahme unter anderen, um gegen Hassrede im Netz vorzugehen. (Eva Weber-Guskar)
Weiter ausgeführt finden sich diese Überlegungen in:
Weber-Guskar, Eva: "Ambivalente Anonymität. Demokratische Debatten im Online-Kommentar?". In: Behrendt, Hauke; Loh, Wulf; Matzer, Tobias; Misselhorn, Catrin; Privatsphäre. 4.0. Eine Verortung des Privaten im Zeitalter der Digitalisierung. Metzler. Im Erscheinen 2019
Zitierte Literatur:
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. 2 Bände. Frankfurt am Main 1981/1982.
Pauen, Michael/ Welzer, Harald: Autonomie. Eine Verteidigung. Frankfurt am Main 2015.
Santana, Arthur D.: Virtuous or Vitriolic. Journalism Practice 8/ 1 (2014). 18-33.
Thiel, Thorsten: Anonymität und der digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit. Zeitschrift für Menschenrechte 1 (2016). 9-24.

Über die Autorin:

PD Dr. Eva Weber-Guskar ist Gastprofessorin für Philosophie an der Humboldt Universität zu Berlin und Fellow der Digital Society Initiative. Ihre Schwerpunkte liegen in der Ethik, Philosophie der Gefühle und Sozialphilosophie.

Zu dieser Kolumne:

Unter "DSI Insights" äussern sich regelmässig Forscherinnen und Forscher der "Digital Society Initiative" (DSI) der Universität Zürich. Die DSI fördert die kritische, interdisziplinäre Reflexion und Innovation bezüglich aller Aspekte der Digitalisierung von Wissenschaft und Gesellschaft.

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