Im Bildungssystem vollzieht sich – langsam aber sicher – ein Paradigmenwechsel. Während vor wenigen Jahren der Umgang mit Daten im Lichte des Datenschutzrechts vor allem als Risiko begriffen wurde, ist inzwischen das Potenzial der Nutzung von Bildungsdaten in den Vordergrund gerückt. Unter Bildungsdaten versteht man dabei im Wesentlichen alle Daten, die im Bildungssystem anfallen. Das Spektrum reicht von den Noten der Lernenden über die Applikationsdaten digitaler Lehrmittel bis hin zu allen Informationen, welche die Verwaltungen der Bildungseinrichtungen produzieren.
Wenn es um die Nutzungspotenziale dieser Bildungsdaten geht, sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt: Daten über einzelne Lernende erlauben personalisierte Lernangebote und gezielte Förderung. Werden sie aggregiert, können die Daten eine wichtige Grundlage für bildungspolitische Entscheidungen sein. Applikationsdaten können aber beispielsweise auch detailliert die Aufmerksamkeitsspanne oder andere Merkmale der Lernenden messen. Überdies kann die Lehrerschaft mithilfe passender Software auf einfache Weise verschiedene Daten über die Lernenden zusammenzutragen und verwalten. Die Profile, welche so entstehen wecken überdies auch kommerzielle Begehrlichkeiten.
Bereits diese Beispiele zeigen, dass die Grenze zwischen bildungspolitisch erwünschten und dystopischen Szenarien schwierig zu ziehen ist. Es braucht deswegen Leitplanken für den Umgang mit Bildungsdaten – und damit eine eigentliche "Data Governance" im Schweizer Bildungssystem.
Diesem Thema nimmt sich erfreulicherweise auch die Politik an. Bund und Kantone haben einen Koordinationsausschuss Digitalisierung in der Bildung ins Leben gerufen. Einsitz in diesem Gremium haben Vertreter aus der Direktion des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation sowie aus dem Generalsekretariat der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. Der Ausschuss soll interdisziplinär und bereichsübergreifend Strategiemassnahmen für die Digitalisierung im Bildungswesen koordinieren. Eines der erklärten Ziele des Ausschusses ist es, eine kohärente Datennutzungspolitik in der Bildung zu formulieren.
Eine schwierige Ausgangslage
Solche kohärenten "Data Governance"-Regeln zu formulieren ist aber im föderalen System der Schweiz besonders schwierig. Dafür können mindestens drei Gründe angeführt werden:
Erstens ist bislang wenig über den "Ist-Zustand" der Datennutzung im schweizerischen Bildungssystem bekannt. Es ist mit anderen Worten unklar, welche Akteure wo und zu welchen Zwecken welche Daten schaffen, erheben, kontrollieren, bearbeiten und nutzen. Um hier ein umfassendes Bild zu erhalten, wäre ein "data mapping" auf allen Verwaltungsebenen bis hin zur Gemeindestufe notwendig. Die föderale Struktur des Schweizer Bildungssystems erschwert diese Aufgabe. Die notwendige Bestandesaufnahme ist mit erheblichem organisatorischem und finanziellem Aufwand verbunden. Ohne sie ist es aber kaum möglich zu formulieren, in welche Richtung sich die "Data Governance" entwickeln soll.
Zweitens wirkt sich die föderale Struktur auch ungünstig auf die Interoperabilität der Bildungsdaten aus. Es ist längst bekannt, dass auch die Verwendung moderner Methoden der Datenanalyse (Big Data) nur dann neue Erkenntnisse liefert, wenn Daten in gleichen oder vergleichbaren Formaten vorliegen. Ansonsten führt kein Weg daran vorbei, die Daten vor der Weiterverwendung (nötigenfalls von Hand) aufwändig aufzubereiten. Die effektive Nutzung der Bildungsdaten setzt also ein gewisses Mass an inhaltlicher Standardisierung voraus. Gleiches muss mit Gleichem verglichen werden können. Neben dieser inhaltlichen Standardisierung ist aber auch eine technische Standardisierung von Bildungsdaten notwendig. Dies zeigt sich gerade beim Einsatz rechtlicher Instrumente. Ansprüche wie jener aus dem in der EU geltenden Datenportabilitätsrecht, womit eine Person sie betreffende Daten herausverlangen kann, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, sofern der Person Daten ausgehändigt werden, welche sie nicht lesen kann. Obwohl besonders diese technische Standardisierung im Grunde keine Aufgabe des Staates ist, sollte sich das Gemeinwesen unbedingt an diesen Prozessen zur inhaltlichen und technischen Standardisierung beteiligen.
Drittens besteht auch auf der rechtlichen Ebene eine erhebliche, ebenfalls durch die föderale Struktur bewirkte Zersplitterung. Die einschlägigen Rechtsnormen finden sich namentlich in den kantonalen Bildungsgesetzen und den kantonalen Datenschutz- und Informationsgesetzen, die jeweils von Kanton zu Kanton zwar materielle Ähnlichkeiten aufweisen, aber dennoch nicht ohne weiteres vergleichbar sind. Insbesondere das Zusammenspiel von Datenschutz- und Bildungsgesetzen kann im Einzelnen zu erheblichen Unterschieden zwischen den Kantonen führen. Oft ist gerade dieses Zusammenspiel für eine Sachfrage entscheidend, weil die Bildungsgesetze die gesetzliche Grundlage für die (im Datenschutzgesetz geregelten) Datenbearbeitungen sind und somit auch die Zwecke zulässiger Datenbearbeitungen vorgeben müssen. Hinzu kommt, dass die meisten einschlägigen kantonalen Gesetze aus einer Zeit stammen, als der Umgang mit (elektronischen) Bildungsdaten noch kein Thema war. Die Bildungsgesetze enthalten beispielsweise kaum Bestimmungen zum Umgang mit Daten. Auch die Datenschutzgesetze harren der Modernisierung, was sich bereits im Umstand zeigt, dass die betroffene Person mit dem so wichtigen Auskunftsrecht kaum je elektronische Daten herausverlangen kann – oft beschränkt sich der Anspruch gar auf eine telefonische Auskunft durch die Behörde.
Angesichts dieser Umstände steht die Frage im Raum, ob und wie man die notwendige "Data Governance" im föderalen System überhaupt formulieren kann. Gewiss hat die föderale Struktur ihre Vorteile – etwa indem sie den Wettbewerb der Systeme fördert und einzelne (Schul-)gemeinden innovative Wege erproben können. Bloss hat dies nur dann einen relevanten Nutzen, wenn schweizweit aus diesen Erfahrungen gelernt werden kann. Gelingt dieser Austausch nicht, drängt sich wohl letztlich doch eine Neuverteilung der Kompetenzen im Bildungsbereich auf.
Drohender Verlust der Kontrolle über die Bildungsdaten
Dass die Ausarbeitung einer "Data Governance" in der Bildung damit ein komplexes und langwieriges Unterfangen zu werden droht, ist indes nur ein Teil des Problems. Problematischer ist, dass in der Zwischenzeit Private in den Markt für Bildungsdaten drängen – seien es Lehrmittelverlage, Anbieter von Evaluationsdienstleistungen oder andere Unternehmen – und den staatlichen Akteuren dadurch die Kontrolle über "ihre" Bildungsdaten entgleitet.
Die Gefahr liegt dabei wohl verstanden nicht in der unternehmerischen Tätigkeit dieser Privaten per se; im Gegenteil zeigen oft erst die Geschäftsmodelle der Unternehmen die Potenziale der Nutzung von Bildungsdaten auf. Kritisch ist vielmehr, dass das Gemeinwesen auf der Stufe der (Schul-)gemeinden oft Schwierigkeiten haben dürfte, sich (vertrags )rechtlich oder faktisch die Kontrolle über die eigenen Bildungsdaten zu sichern, wenn es kommerziellen Anbietern gegenübersteht. Das hat weit reichende Konsequenzen: Haben die Daten erst einmal den Kontrollbereich des Gemeinwesens verlassen, kann deren Nutzung nicht mehr kontrolliert werden. Überdies unterstehen sie dann zwar dem eidgenössischen Datenschutzrecht, aber nicht mehr den kantonalen Datenschutzgesetzen, welche die Datennutzung in Übereinstimmung mit den besonderen bildungspolitischen Zwecken regeln. Besonders problematisch ist die Lage, wenn die Daten direkt von den Privaten erhoben werden. Dann ist eine Nutzung der Bildungsdaten durch das Gemeinwesen faktisch ausgeschlossen. Zu Ende gedacht könnte dies zur untragbaren Situation führen, dass der Staat Daten über das staatliche Bildungssystem von Privaten zurückkaufen müsste, beispielsweise zum Zweck der Bildungsplanung.
So weit ist es zum Glück noch nicht. Aber um die Weichen richtig zu stellen, sollten rechtzeitig Grundsätze formuliert werden, an welchen sich die Verwaltungseinheiten bei der Kooperation mit Privaten orientieren können. Abhilfe gegen ein mögliches Verhandlungsungleichgewicht zwischen kleinen (Schul-)gemeinden und grossen privaten Unternehmen schaffen zudem Rahmenverträge, wie sie etwa educa.ch, die Fachagentur für ICT und Bildung des Bunds und der Kantone, mit einzelnen Leistungserbringern aushandelt. Reichen diese beiden Massnahmen hingegen nicht aus, müsste letztlich darüber nachgedacht werden, ob es generell einen gesetzlich verankerten Anspruch auf Zugang zu privat gehaltenen Bildungsdaten – ein so genanntes Datenzugangsrecht – braucht. (Dr. Alfred Früh)
Über den Autor:
Dr. Alfred Früh ist Geschäftsführer des Center for Information Technology, Society, and Law (ITSL) an der Universität Zürich und Fellow der UZH Digital Society Initiative. Er ist Ko-Autor eines vom ITSL zuhanden von educa.ch erstellten Fachbeitrags im Projekt zur Schaffung einer kohärenten Datennutzungspolitik in der Bildung.
Zu dieser Kolumne:
Unter "DSI Insights" äussern sich regelmässig Forscherinnen und Forscher der "Digital Society Initiative" (DSI) der Universität Zürich. Die DSI fördert die kritische, interdisziplinäre Reflexion und Innovation bezüglich aller Aspekte der Digitalisierung von Wissenschaft und Gesellschaft.