Werden Digitalisierung und Demokratie in einem Atemzug genannt, so dominiert heutzutage das Negative: Politiker, die den Gegner auf Twitter verunglimpfen; Trolle, welche die Kommentarspalten der Medienportale mit Lügen verseuchen; Propagandisten, welche verdeckt und raffiniert "alternative Fakten" in den Sozialen Medien verbreiten. Nicht mehr viel ist übrig geblieben von der sympathischen, wenn auch vielleicht etwas naiven Idee, das Internet würde die Menschen befreien und zu einem besseren politischen Zusammenleben beitragen. Man gewinnt fast schon den Eindruck, die dunkle Seite der Macht habe den Cyberspace übernommen. Es ist an der Zeit, das zu ändern und die positiven Kräfte der Digitalisierung für unsere Demokratie zu nutzen.
Zu diesem Zweck hat sich eine Gruppe von Exponenten aller politischer Schattierungen und unterschiedlicher beruflicher Hintergründe gebildet und am Wochenende das "Manifest für eine digitale Demokratie" lanciert. Wir plädieren in diesem Manifest dafür, digitale Instrumente für eine Erneuerung der direkten Demokratie in der Schweiz (und anderswo) bewusst und positiv einzusetzen. Wir orientieren uns dabei an fünf Grundsätzen, die ich hier wie folgt zusammenfassen kann:
Erstens: Die Digitalisierung ermöglicht zwar eine direktere Demokratie – aber nicht automatisch; wir müssen uns als Gesellschaft bewusst dafür entscheiden, wo wir digitale Hilfsmittel einsetzen wollen und wo nicht.
Zweitens: Das Motiv einer digitalen Demokratie sollte sein, die von Politik Betroffenen zu politisch Beteiligten zu machen – es geht nicht darum, die direkte durch eine digitale Demokratie zu ersetzen, sondern die Einbindung von Menschen in die Politik zu unterstützen.
Drittens: Der Weg zu diesem Ziel führt nicht einfach über eine Vereinfachung politischer Verfahren – vielmehr sollten wir die Chancen der Digitalisierung nutzen, um mit neuen Formen der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern zu experimentieren.
Viertens: Wir dürfen uns vom Tempo des digitalen Wandels nicht herumhetzen lassen, sondern wir sollten überlegt und mit Bedacht vorgehen – digitale Dynamik ist kein Selbstzweck, sondern wir müssen eine Balance zwischen Agilität und Stabilität finden.
Fünftens: Wir sollten digitale Demokratie wagen – also mit anderen Worten, mit vielen kleinen Experimenten beginnen, neue Ideen für eine digitale Demokratie zu entwickeln und auszuprobieren.
Und genau das haben wir vor: Wir nutzen ein digitales Instrument, das bereits in New York City erfolgreich für die Entwicklung neuer Ideen für ein besseres Zusammenleben eingesetzt worden ist. Wer hätte gedacht, dass man durch Stromanschlüsse für Kreuzfahrtschiffe mit einfachen Mitteln derart viel für die Luftqualität in Städten tun kann? Es waren Bürgerinnen und Bürger wie Sie, die in New York genau diese Idee ins Spiel gebracht hatten – kombiniert mit einem raffinierten Algorithmus der Plattform "All Your Ideas", der den einfachen Vergleich von Ideen und deren Bewertung erlaubt.
Dies ist nur ein Beispiel von vielen, wie man mittels digitalen Technologien Menschen zusammenbringen kann. In unserer Forschung an der Universität Zürich beschäftigen wir uns mit der systematischen Entwicklung und Koordination von Systemen, die Probleme lösen sollen, welche entweder zu komplex oder zu teuer sind, um durch rein homogene Maschinen- oder Personengruppen bearbeitet zu werden. Dabei müssen neuartige Ansätze der Programmierung und Koordination entwickelt werden, welche es erlauben die menschliche Diversität als Stärke wirksam einzusetzen. Beispielsweise haben wir eine Plattform entwickelt, welche durch maschinenunterstützte Kollaboration vieler Menschen die Übersetzung eines Buches in nur wenigen Stunden ermöglicht hat. Eine direkte Demokratie ist so gesehen ein "Betriebssystem" für die Lösung gesellschaftlicher Probleme – und es ist nun an der Zeit sich zu überlegen, wo ein Upgrade notwendig ist. Denn wir müssen uns bewusst sein, dass die laufende Digitalisierung unser Zusammenleben verändert und wir deshalb unser politisches System neu organisieren sollten. Diese Debatte sollten wir mit der gebotenen Sorgfalt für die bisherigen Errungenschaften unserer Demokratie führen – aber wir sollten ihr auch mit Mut, Hoffnung und Offenheit für Neues begegnen.
So möchten wir Sie einladen, auf der Seite
www.digital-manifest.ch ihre Ideen einzubringen und die Vorschläge anderer zu bewerten. Das ist natürlich nur ein kleiner Schritt – aber grosse Veränderungen beginnen immer mit kleinen Schritten.
Abraham Bernstein ist Professor am Institut für Informatik der Universität Zürich und Direktor der UZH Digital Society Initiative.
Zu dieser Kolumne: Unter «DSI Insights» äussern sich regelmässig Forscherinnen und Forscher der «Digital Society Initiative» (DSI) der Universität Zürich. Die DSI fördert die kritische, interdisziplinäre Reflexion und Innovation bezüglich aller Aspekte der Digitalisierung von Wissenschaft und Gesellschaft.