Eine geleakte Kundenliste zeigt: Weltweit erhielten Polizei- und andere Behörden die umstrittene Software zumindest zu Testzwecken. Auch in Zürich und St. Gallen.
Das US-Unternehmen Clearview AI besitzt eigenen Angaben zufolge "die grösste bekannte Datenbank mit über 3 Milliarden Porträtbildern". Die Clearview-Software richtet sich an Strafverfolgungsbehörden. Möglich ist damit ein Abgleich von Fotos einzelner Menschen mit der grossen Zahl Bildern in der Datenbank, die etwa von sozialen Netzwerken stammen.
Vergangenes Jahr hatten Google, Twitter, Facebook und Venmo Unterlassungserklärungen an Clearview geschickt. In diesen fordern sie das Unternehmen auf, das Scraping von Fotos auf ihren Websites einzustellen. Im Mai 2021 reichten europäische Datenschutz-Aktivisten in mehreren Ländern zudem Klage gegen das Unternehmen ein.
Im Zentrum der Beschwerden steht der automatisierte Image Scraper von Clearview. Die einzigartigen Gesichtsmerkmale zu extrahieren oder diese Informationen mit der Polizei zu teilen, gehe weit über das hinaus, was man als Online-Nutzer erwarten könne, kritisieren die Datenschutz-Aktivisten.
Trotz der seit längerem anhaltenden Kritik wurde das umstrittene Gesichtserkennungssystem von Polizei, Regierungsbehörden und akademischen Institutionen auf der ganzen Welt aber zumindest getestet. Dies zeigen interne Dokumente von Clearview, die 'Buzzfeed' vorliegen.
Rund 14'000 Untersuchungen mit Clearview
Bis Februar 2020 hätten 88 Strafverfolgungsbehörden und mit der jeweiligen Regierung verbundene Behörden in 24 Ländern ausserhalb der USA die Software getestet, schreibt die News Site. Oft habe das Unternehmen seine Software auf einer Try-before-you-buy-Basis angeboten. Dabei seien fast 14'000 Untersuchungen mit Clearview durchgeführt worden.
Unter anderem finden sich Polizeibehörden in Grossbritannien, Spanien, Belgien, Finnland, Frankreich, Italien, Schweden sowie Interpol auf der Liste. Einige dieser Behörden befinden sich in Ländern, in denen die Nutzung von Clearview mittlerweile als "rechtswidrig" eingestuft wurde.
Grafik: Buzzfeed
Auf der Liste stehen auch die Kantonspolizei St. Gallen und die Stadtpolizei Zürich. Gemäss 'Buzzfeed' wurden dort jeweils 11 bis 55 Untersuchungen beziehungsweise Anfragen an die Clearview-Datenbank durchgeführt. Wie bei allen anderen Behörden und Organisationen ersuchte 'Buzzfeed' auch in der Schweiz um Stellungnahmen.
Zürich und St. Gallen: kein offizieller Kauf
"Die Kantonspolizei St. Gallen hat ein Projekt zur Evaluation von Gesichtserkennungssoftware durchgeführt", erklärte der dortige Mediensprecher. "Dabei wurden mehrere Anbieter getestet. Clearview AI war nicht unter den offiziell getesteten Produkten. Wir haben über 1000 Mitarbeiter und ich kann keine Auskunft über einzelne Aktionen geben. Die Kantonspolizei St. Gallen als Institution hat Clearview AI weder getestet noch eingesetzt."
Von der Stadtpolizei Zürich heisst es: "Wir haben uns bei der Finanzabteilung der Stadtpolizei Zürich und bei der digitalen Forensik erkundigt. In den letzten drei Jahren haben wir nie eine Clearview-Software gekauft oder für deren Nutzung bezahlt. Die Abteilung Digitale Forensik der Stadtpolizei hat keine Kenntnis davon, dass Mitarbeiter Clearview AI verwenden oder verwendet haben. Wir können jedoch nicht ausschliessen, dass sich jemand mit seiner E-Mail-Adresse bei der Stadtverwaltung Zürich angemeldet und das Tool privat genutzt hat."
In anderen Ländern hätten einige Angefragte zugegeben, dass die Technologie ohne Aufsicht durch die Führungskräfte eingesetzt wurde, schreibt 'Buzzfeed'. Rund ein Drittel der in der Liste erfassten 88 Organisationen reagierte nicht auf entsprechende Anfragen.
Interpol: Nur 30-tägiges Testkonto genutzt
Interpol erklärte, dass die Einheit "Verbrechen gegen Kinder" eine Reihe von Technologien einsetze, um Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch im Internet zu identifizieren. Eine kleine Anzahl von Beamten habe dabei ein 30-tägiges, kostenloses Testkonto genutzt, um die Clearview-Software zu testen. Aber: "Es besteht keine formelle Beziehung zwischen Interpol und Clearview, und die Software wird von Interpol nicht in der täglichen Arbeit verwendet."
Jake Wiener, Rechtswissenschaftler am Electronic Privacy Information Center, erklärte dazu, dass es bereits viele Tools zur Bekämpfung dieser Art von Kriminalität gebe, und im Gegensatz zu Clearview würde es sich nicht um eine ungenehmigte Massensammlung von Fotos handeln. "Wenn die Polizei einfach nur Opfer von Kinderhandel identifizieren will, gibt es bereits robuste Datenbanken und Methoden", sagte er. "Dafür brauchen sie keine Clearview AI."
Anfang 2020 hatten Medienberichte über Clearview auch den Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (Edöb) aufgeschreckt. Dieser geht davon aus, dass "die Anbieter von Clearview bei der Beschaffung von Gesichtsdaten die Persönlichkeit der betroffenen Personen in der Schweiz wie auch die Nutzungsbedingungen von sozialen Plattformen verletzen".