Die Doppelabstimmung vom 3. März 2024 zur Reform der AHV gibt mir die Gelegenheit, etwas genauer auf diese Institution einzugehen, mit der wir alle im Alltag unweigerlich konfrontiert sind. Die Alters- und Hinterlassenenversicherung, wie die AHV mit vollem Namen heisst, hat Eigenheiten, die ihre wahre Natur und das Ausmass der Belastung der Versicherten verschleiern.
Doppelter Abzug
Das beginnt mit den Abzügen, welche Arbeitnehmer zu bezahlen haben. Ein Blick auf die Lohnabrechnung sagt: Es sind 5.3% (inkl. IV/EO). Doch dies ist nur der sogenannte Arbeitnehmeranteil. Gesamthaft fällt das Doppelte an, nämlich 10.6%. Der Gesetzgeber hat es jedoch so eingefädelt, dass wir auf dem Lohnzettel nur die Hälfte sehen. Es klingt auch so schön und sozialpartnerschaftlich, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Kosten brüderlich teilen. Betriebswirtschaftlich ist das aber ein reine Spiegelfechterei. Der Arbeitgeber bezahlt einen Bruttolohn und der Arbeitnehmer erhält den Nettolohn, die Differenz beträgt (soweit die AHV betroffen ist) 10.6%. Das ist somit der effektiv vorgenommene Abzug. Psychologisch raffiniert, aber sobald Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammenfallen, geht das nicht mehr: Selbstständigerwerbende bezahlen dann auch offiziell 10% AHV-Beiträge. Weil der Trick so gut funktioniert, wird er auch in der zweiten Säule angewendet. Von diesen durchschnittlich 18.5% Lohnprozenten sieht man auf dem Lohnausweis auch bloss die Hälfte.
Die versteckte Sondersteuer
"Wer pro Jahr mehr als 115'000 Franken verdient, bezahlt auf alle Lohneinnahmen über diesem Betrag eine Sondersteuer von 10% zusätzlich zur aktuellen Kantons- und Bundessteuer." Es wäre politisch wohl sehr schwierig, eine solche Bestimmung einzuführen, die rund jeden achten Lohnempfänger zusätzlich zur normalen Steuerprogression zur Kasse bittet. Dabei passiert das längst – und niemand rebelliert dagegen (weil es kaum jemand weiss). Dies liegt daran, dass wir für jegliches Lohneinkommen AHV bezahlen, die Renten jedoch gedeckelt sind. Diese Schattensteuer führt zu einer massiven zusätzlichen Umverteilung von Hochlohnverdienern zu übrigen Lohnempfängern.
Man kann nun argumentieren, aus sozialpolitischen Gründen sei diese zusätzliche Solidarität zu befürworten. Allerdings ist es falsch, dass dies heimlich, ohne das Wissen der meisten Bürgerinnen und Bürger erfolgt. Diese Mechanik läuft auch dem Versicherungsprinzip zuwider. Die Unsichtbarkeit dieser "Schattensteuer" führt dazu, dass bei den Diskussionen um Sozialversicherungen und Steuern die Belastung der einkommensstarken Arbeitnehmenden und ihre Leistung zugunsten der Gemeinschaft unterschätzt werden. Dass das Ausmass der Umverteilung nicht sichtbar ist, erleichtert es wiederum den linken Parteien, nach noch mehr Umverteilung zu rufen.
Überdies wird trotz dieser massiven Umverteilung die AHV zu weniger als drei Vierteln von der Gesamtheit der Beitragszahler finanziert. Unter anderem fliessen 9,5 Milliarden Franken aus der allgemeinen Bundeskasse in die AHV. Und der Bundeshaushalt wird wiederum von der stark progressiven Bundessteuer alimentiert, womit hohe Einkommen nochmals zusätzlich zur Kasse gebeten werden.
Gender Gap
Vor anderthalb Jahren haben wir bereits einmal über die AHV abgestimmt und dabei das Rentenalter der Frauen von 64 auf 65 erhöht. Was war das für eine Polemik, wie die Frauen brutal geknechtet würden, weil sie mit den Männern gleichgestellt werden sollen. Auch bei dieser Diskussion wurden in der öffentlichen Diskussion Fakten unterschlagen, die relevant wären: Nämlich, dass Frauen eine um 2,5 Jahren höhere Lebenserwartung haben als Männer und erst noch 3,7% höhere Renten erhalten, womit sie im Durchschnitt insgesamt gegen 80'000 Franken mehr AHV beziehen. Auch hier kann man argumentieren, dass es bei der zweiten Säule für die Frauen schlechter aussieht. Es ist aber nicht Sache der AHV, Mängel der zweiten Säule zu korrigieren, sondern wenn schon letztere zu reformieren. Auch hier sehen wir, dass man den Bürgerinnen und Bürgern nicht zutraut, der Wahrheit ins Auge zu schauen, weshalb man hintenherum das System manipuliert, um zum politisch erwünschten Resultat zu gelangen.
Es ist nicht an mir, an dieser Stelle für den 3. März eine Abstimmungsempfehlung zu geben, obwohl natürlich meine Leserinnen und Leser sicher wissen, wo ich stehe. Es geht mir auch nicht darum, die AHV als "Sozialwerk", wie es liebevoll genannt wird, schlecht zu machen. Hingegen möchte ich aufzeigen, dass hinter den plakativen Argumenten in der Sozialpolitik uns Stimmenden gegenüber oftmals mit gezinkten Karten gespielt wird. Deshalb lohnt sich vor einer Abstimmung auch ein Blick hinter die Kulissen.
Jean-Marc Hensch ist seit 2012 Kolumnist von inside-it.ch. Als Verwaltungsrat, Startup-Investor und Coach ist er in der ICT- sowie in weiteren Branchen engagiert. Er äussert hier seine persönliche Meinung und twittert als @sosicles. Recherchen und Textoptimierungen erfolgen teilweise mit KI-Tools.