Soko Maier: Im Schatten des ChatGPT-Rampenlichts

15. Februar 2024 um 14:39
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Kolumnistin Elisabeth Maier erklärt den Unterschied zwischen generativer und prädiktiver KI, und wo man die beiden KI-Varianten am besten einsetzt.

Egal, ob es sich um Gespräche im geschäftlichen oder privaten Rahmen handelt: immer, wenn sie sich aktuell um das Thema Künstliche Intelligenz (KI) drehen, ist eigentlich ChatGPT gemeint. Oder eines seiner Geschwister, die auf den gleichen Prinzipien beruhen. Im Schatten des ChatGPT-Rampenlichts jedoch gibt es noch viel mehr zu entdecken!
Was den wenigsten klar zu sein scheint: ChatGPT und das zugrundeliegende Prinzip, die sogenannte “generative KI”, ist nur einer von vielen verschiedenen KI-Ansätzen. ChatGPT ist hip. Es kann wirklich viel und lässt sich sehr gut in zeitraubenden und nervtötenden Situationen für Alltagsprobleme einsetzen. Danke dafür, OpenAI.
Aber ChatGPT ist nicht die Lösung für alle KI-Fragestellungen. Genau genommen ist die Familie der ChatGPT-artigen Systeme auf Basis generativer KI wie zum Beispiel Midjourney, DALL-E oder Github Copilot nur eine, wenn auch aktuell sehr im Rampenlicht stehende Möglichkeit. Eher im Schatten stehen Lösungen aus dem Umfeld der prädiktiven KI, dies jedoch völlig zu Unrecht. Welcher Ansatz eignet sich für welche Use Cases? Gerne vergleiche ich beide für Sie.

Generative KI: Kreativität und breite Anwendbarkeit

Generative KI basiert auf riesigen, sehr breit gestreuten Datensammlungen. Aus diesen Daten werden durch lernende Verfahren typische Muster abgeleitet, die dann zu neuen Inhalten kombiniert werden können. Bei der generativen KI handelt es sich also um ein kreatives Verfahren, das Bausteine auswählt und nach erlernten Mustern zu einem neuen Artefakt (Text, Bild, Video, Audio, Software, …) zusammensetzt. Diese Fähigkeit war bislang Menschen vorbehalten. Diese Artefakte sind denen von Menschen täuschend ähnlich oder übertreffen diese manchmal sogar. Typische Anwendungsgebiete sind zum Beispiel:
  • Interaktives Beantworten von Fragen
  • Erzeugen von (personalisierten) Textentwürfen
  • Generieren von Designentwürfen und Bildern
  • Zusammenfassen und Übersetzen von Texten
  • Kundenunterstützung bei Service-Hotlines
  • Programmieren von Commodity-Software oder Software-Tests
Das Anwendungsspektrum ist also extrem breit, der maschinellen Kreativität scheinen nahezu keine Grenzen gesetzt. Hält die Technologie, was sie verspricht? Probieren wir's aus.

Halluzinierte Antworten und falsche Fragen

Jeder von uns hat sich vor eineinhalb Jahren mit mehr oder weniger Skepsis an die damals neue Technologie herangetastet. Und vermutlich waren die meisten schnell begeistert, als die erste Einladung zur Betriebsfeier in 5 Minuten statt in einer Stunde druckreif formuliert vorlag. Oder als das massgeschneiderte Sightseeing-Programm für einen kulturlastigen Städtetrip in Sekundenschnelle auf dem Smartphone erschien. Schon damals konnte man viel erledigen. Doch bald kamen Zweifel auf. Nämlich dann, als wir von ChatGPT die ersten Male hinters Licht geführt wurden:

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Gut, dass wir nachgefragt haben. Die von ChatGPT besagte Tour fand zwar tatsächlich 2009 statt, aber in der Schweiz gab es nur ein Konzert in Bern. Solche Falschaussagen bemerkte man von da an immer häufiger. Und man begann sich zu fragen, ob und wann man weitere Fehler nicht bemerkt hatte. Woran das liegt? Nun, die zugrunde liegenden Daten können mehrere Probleme aufweisen. Die wohl wichtigsten sind Unvollständigkeit, Repräsentativität, Nachvollziehbarkeit, Aktualität und Korrektheit.
Alle diese Aspekte können gewöhnliche User nicht überprüfen. Zudem müssen sie gute Fragen (sogenannte Prompts) stellen, um hochwertige Antworten zu erhalten. Nicht von ungefähr hat sich "Prompt Engineering" in kürzester Zeit zu einem eigenständigen und nachgefragten Beruf entwickelt. Auch hier gilt "Garbage in - Garbage out"!

Wo generative KI gut einsetzbar ist

Generative Ansätze sind bevorzugt dann einzusetzen, wenn:
  • ein Mensch die letzte (qualitätssichernde) Instanz bei der Arbeit mit KI-generierten Daten ist. Wie ich bereits in meiner Kolumne ChatGPT für die Softwareentwicklung geschrieben habe, ist blindes Vertrauen kein guter Ratgeber.
  • kein oder nur geringer Schaden entsteht beziehunsweise wenn gelegentliche Fehler keine grossen Probleme verursachen.
  • keine personenbezogenen oder tendenziösen Daten verarbeitet werden.
  • die Fragestellung keinen hohen Grad an Spezialisierung aufweist.

Wenn es genauer sein muss: Prädiktive KI

Die generative KI hat zwar das Rampenlicht übernommen und dieses deutlich heller gemacht. Jedoch gibt es eine Vielzahl an Use Cases, bei denen generative KI zu kurz greift und andere Methoden angewendet werden müssen, beispielsweise:
  • Predictive Maintenance im Engineering
  • medizinische Diagnosen
  • Analysen (z.B. Kundenverhalten) und Erstellung von Prognosen
  • Betrugserkennung
Für solche Anwendungsfälle ist eine weitere Art von KI wesentlich besser geeignet: Prädiktive KI.
Während ein Nutzer einem generativen KI-System ad hoc verschiedenste Arten von Aufgaben (innerhalb eines gewissen Spektrums) geben kann, sind prädiktive KI-Systeme meist für eine einzelne, konkrete Aufgabe massgeschneidert. Diese Aufgabe muss schon vor dem Training definiert werden. Prädiktive KI-Systeme sind also in ihrer Anwendbarkeit deutlich begrenzter, können ihre spezifische Aufgabe dafür aber im Allgemeinen sehr viel besser lösen als ein Schweizer Taschenmesser aus der Familie der generativen KI dies könnte.
Auch bei der Art der Aufgaben gibt es einen Unterschied: Während die generative KI neuen Content generiert, bewertet die prädiktive KI bereits bestehende Daten, um Aussagen über deren unbekannte Eigenschaften (zum Beispiel Spam oder nicht Spam) oder Vorhersagen über zukünftige Ereignisse und Entwicklungen (morgen ist es sonnig oder bewölkt) zu treffen.
Prädiktive KI basiert ebenfalls auf Trainingsdaten und Verfahren zum Ableiten von Mustern. Womit wir automatisch schon bei der grössten Herausforderung sind: dem Sammeln und Bereitstellen möglichst repräsentativer und fehlerfreier Trainingsdaten.

Das A und O der prädiktiven KI: verlässliche Daten

Die Erarbeitung der Datenbasis umfasst die folgenden vier Schritte:
  • Das Sammeln von Daten für den speziellen Anwendungsfall
  • Die Vorverarbeitung der Daten, die Bereinigung und Beseitigung aller Anomalien
  • Die Bereitstellung gelabelter Trainingsdaten, also vorklassifizierte Daten zum Trainieren des KI-Systems
  • Das Trainieren eines Vorhersagemodells
  • Das Testen der Modelle auf ihre Genauigkeit

Daten sind das neue Gold

Um Vorhersagen möglichst genau treffen zu können, benötigt es neben Fachwissen also qualitativ hochwertige Daten. Nehmen wir zum Beispiel den Use Case der vorausschauenden Wartung. Mittels dieser Vorhersage möchten Anbieter oder Betreiber von Systemen potenzielle Ausfallzeitpunkte vorhersagen, um Systemabschaltungen zu verhindern. Das wiederum kann die mittlere Zeit zwischen Ausfällen (“mean time between failure”) verlängern. Man kann sich leicht ausrechnen, dass eine Datenbasis für einen solchen Use Case sehr fokussiert sein muss und die Zusammenstellung sehr zeit- und kostenintensiv ist.
Auf den ersten Blick sehen Sie jetzt womöglich zwei Nachteile: hohe Kosten bei einem nicht flexiblen Anwendungsbereich. Lohnt sich das dann überhaupt? Ja, definitiv. Stellen Sie sich vor, die Anbieter oder Betreiber können dadurch unnötige, nicht minder teure Ausfallzeiten verhindern. Da sind die Kosten ganz schnell relativiert. Zumal die KI grundsätzlich auch fortlaufend dazulernen kann und die Vorhersagen dadurch in der Regel noch genauer werden.

Künstliche Intelligenz ist weit mehr als ChatGPT

Künstliche Intelligenz ist ein faszinierendes Thema. Und ja, sie kann Anwendern enorme Vorteile bringen – von der Inhaltsgenerierung bis hin zu Wettbewerbsvorteilen ist für alle etwas dabei. Die Wahl der Verarbeitungsmethode hängt vom individuellen Anwendungsfall ab, es gibt nicht DAS eine Werkzeug. Und dieses Fazit ist genau das, was ich allen meinen Gesprächspartnern mit auf den Weg gebe. In diesem Sinne: bleiben Sie kreativ und handeln Sie vorausschauend.
Soko Maier ist die Software-Kolumne von inside-it.ch. Hier schreibt Karakun-CEO Elisabeth Maier regelmässig über Themen rund um Software und Programmiersprachen.


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