Die morgen startende Konferenz auf dem Bürgenstock wäre ein guter Ort für eine Protestaktion. Viele der Politikerinnen und Politiker vor Ort finden es angebracht, EU-Bürgerinnen und -Bürger anlasslos zu überwachen.
Das Stichwort des "Überwachungs-Programms" ist clever gewählt und lautet Chatkontrolle. Es deutet darauf hin, kriminelle Aktivitäten in der digitalen Kommunikation aufspüren zu wollen. Und das ist doch etwas Gutes, richtig? Weniger Kriminalität ist gleichzusetzen mit einer besseren Welt. Grundsätzlich würde ich der Aussage zustimmen, aber ich bin nicht bereit, den Preis zu zahlen, der dafür nötig ist.
EU-Staaten wollen mehr Überwachung
Denn um private Kommunikation in Messengerdiensten abfangen und überwachen zu können, darf nicht verschlüsselt kommuniziert werden. Deshalb wollen viele EU-Länder End-zu-End-Verschlüsselung stark schwächen und Anbieter wie Whatsapp, Signal oder Threema
zur Überwachung verpflichten. Dass diese das nicht wollen – geschenkt. Wenn das Gesetz kommt, müssen sie es trotzdem machen. Ein Ausweg auf legaler Basis ist nicht in Sicht.
Dass noch im Februar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die
Chatkontrolle für menschenrechtswidrig erklärt hat, interessiert die Verantwortlichen nicht. Ende Mai sprachen sich im ständigen Ausschusses für die operative Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit (COSI) mehrere EU-Mitgliedstaaten für einen Zugriff auf verschlüsselte Daten und Kommunikation sowie eine europaweite Vorratsdatenspeicherung aus.
Grosse Medien schauen weg
Wichtig dabei festzuhalten, ist: Das ist kein alleiniges Thema der EU, das uns als Nichtmitgliedsstaat nichts angeht. Würden die genannten Anbieter tatsächlich verpflichtet, die Verschlüsselung aufzugeben, wird es kaum eine Signal-Sonderedition mit Schweizerkreuz geben.
Zumal dann noch genau geregelt werden müsste, wie jetzt genau eine Kommunikation zwischen einem Berner und einer Berlinerin verschlüsselt würde. Ich denke, Sie kennen die Antwort: Gar nicht.
Was mich an der ganzen Sache aber fast noch mehr schockiert als das Vorhaben an sich, ist das Schweigen zum Thema in den grossen Medien. Seit Anfang Jahr sind in Schweizer Medien ganze zehn Artikel zum Thema erschienen, davon ein knappes Drittel (drei Artikel) bei uns. 'Watson' schrieb zweimal darüber und '20 Minuten' einmal. Aber von 'NZZ', 'Tages-Anzeiger', 'Blick' oder der 'Aargauer Zeitung' gibt es gemäss Schweizer Mediendatenbank nur eisernes Schweigen zum in meinen Augen relevanten und für die Bevölkerung eigentlich höchst beunruhigenden Thema.
Ich verstehe diese Redaktionen nicht, wegschauen ist bei diesem Thema in meinen Augen keine Option. Liegt es am fehlenden Verständnis oder daran, dass das Interesse beim Publikum fehlt? Dies wäre eine weitere mögliche Antwort darauf, weshalb Massenmedien diesem Thema kein Gewicht geben.
Grundrechte sind nicht verhandelbar
Denn in der Pflicht sind schon auch wir Bürgerinnen und Bürger: Das Argument "ich habe nichts zu verstecken, also interessiert es mich nicht", hörte ich diese Woche wortwörtlich von einem erwachsenen Mann. Dabei spielt das überhaupt keine Rolle: Privatsphäre und Datenschutz sind nicht verhandelbar, sondern ein Grundrecht, auf das wir alle Anspruch haben. Und daran darf der Rechtsstaat nicht rütteln, um illegale Aktivitäten aufzuspüren. Wenn es die Strafverfolger ohne Massenüberwachung nicht schaffen, müssen sie sich halt mehr anstrengen.