"Komplexer als vorerst angenommen". Die Strasse des Maloja Passes. Foto: Eberhard Grossgasteiger / Unsplash
Das 36 Millionen schwere IT-Projekt von Bern, Zürich und Basel harzt, noch immer läuft keine Applikation. In zwei Städten braucht es wohl Nachkredite. Dies zeigen unsere Recherchen.
Die Idee war gut: Um das Dickicht der Behördeninformatik etwas zu lichten, beschlossen die Städte Bern und Zürich sowie der Kanton Basel-Stadt ihre veralteten Sozialversicherungs-Systeme gemeinsam abzulösen. Die drei grössten Deutschschweizer Städte gründeten dazu 2014 den Verein Citysoftnet, der das Projekt koordiniert und leitet. Für 36,5 Millionen Franken sollen sie eine gemeinsame Kernapplikation erhalten. Hinzu sollen jeweils eigene Module und Integrationen in die bestehenden Systemlandschaften kommen – ein hochkomplexes Unterfangen.
Bereits 2022 hätte das System in der dritten und letzten Stadt – Basel – eingeführt sein sollen. Dies geht aus den Ausschreibungsunterlagen hervor, die inside-it.ch vorliegen. Doch bis heute läuft in keiner der Städte eine Applikation, die im Rahmen des Projekts entwickelt wurde.
In der ursprünglichen Roadmap war Abschluss der Integration und Einführung in Basel-Stadt Anfang 2022 vorgesehen. Screenshot aus den Ausschreibungsunterlagen.
Den Auftrag für die Umsetzung erhielt 2018 die Firma Emineo aus Zürich, die damals gerade mal 80 Mitarbeitende zählte. Der Zuschlag wurde früh kritisiert: Das IT-Unternehmen sei klein und habe teuer offeriert. Emineo hatte aber als einziger Anbieter eine Offerte eingereicht – mit Ausnahme der Konkurrentin Diartis, die in Bern das alte System gestellt hatte und offenbar ein dreifach günstigeres Angebot eingereicht hatte. Für die Schweizer Hauptstadt hätte dies Kosten in Höhe von rund 6 Millionen Franken bedeutet – statt rund 19 Millionen. Diartis habe aber bloss eine Weiterentwicklung der hauseigenen Lösung inklusive Migration offeriert, wehrten sich die Verantwortlichen nach dem Zuschlag, wohingegen Emineo eine Neuentwicklung angeboten habe.
"Der Verein Citysoftnet hat sich bewusst für das Eigentumsmodell mit höherer Erstinvestition entschieden, bei welchem die Rechte an der substanziellen Individualentwicklung des Kerns und der städtespezifischen Teile bei den Städten bleiben", hiess es im Kreditantrag der Stadtberner Regierung an das Parlament. Zudem seien Systemmängel und funktionale Lücken der seit den 1990ern betriebenen Lösung von Diartis durch Optimierungen kaum mehr zu beheben. Davon liess sich die Stimmbevölkerung der Stadt überzeugen. Sie stimmte im Herbst 2018 deutlicher als das Parlament für den Kredit, der knapp 19 Millionen Franken schweren IT-Beschaffung für die Stadt.
In Bern kam der Kredit 2018 vor die Stimmbevölkerung.
Auch Zürich und Basel sprachen die notwendigen Kredite. Die Limmatstadt ist mit 40% an den Entwicklungskosten beteiligt. Die Dienstabteilung Soziale Dienste des grössten Projektpartners wickelt mit etwa 900 Mitarbeitenden pro Jahr rund 18'000 Fälle über das heutige System ab. Intern schuf Zürich sieben Stellen für das Projekt, was rund 1,4 Millionen Franken pro Jahr kostet, wie aus dem Protokoll der Stadtratssitzung vom 3. Oktober 2018 hervorgeht. Der Zürcher Stadtrat bewilligte im Herbst 2018 inklusive interner Kosten 26,4 Millionen Franken.
Antrag auf Akteneinsicht: abgelehnt
Die Unstimmigkeiten der Startphase liegen 4 Jahre zurück. Um das Projekt ist es ruhig geworden – sehr ruhig. Inside-it.ch weiss aus internen Quellen, dass man in der Verwaltung die Entwicklung mit einiger Sorge beobachtet. Schliesslich hat sich das Projekt bereits stark verzögert. Nachdem man die Deadline für den Abschluss in Basel als letzte Stadt anfangs auf 2022 festgelegt hatte, wird nun der Beginn der Einführung und Integration für Bern auf Anfang 2023 angestrebt.
In Zürich schaut man auf eine lange Leidensgeschichte mit Fallführungssoftware zurück. Das Projekt Famoz, später Elusa (Elektronisch unterstützte soziale Arbeit) genannt, scheiterte 2011 spektakulär. Zürich hatte damals für die Neuentwicklung bis zum Projektstopp 23 Millionen Franken ausgegeben, einen Teil konnte man nach eigenen Angaben in Betrieb nehmen. Auch Berns Sozial- und Bildungsdirektion ist ein gebranntes Kind: Dort legt man seit dem spektakulären Scheitern des Schul-IT-Projekts Base4Kids2 ebenfalls ein achtsames Auge auf komplexe IT-Projekte.
Das Verwaltungszentrum Werd in Zürich. Die Stadt hat Erfahrung mit Problemen bei Fallführungssoftware. Foto: Pascal Meier / Unsplash
Eine Öffentlichkeitsanfrage von inside-it.ch zur Einsicht in die Sitzungsprotokolle des obersten Kontrollgremiums, dem Steuerungsausschuss, lehnte der Verein Citysoftnet ab. Eine Veröffentlichung würde die Entscheidungsfindung der zuständigen Organe beeinträchtigen, weil die Protokolle den noch nicht abgeschlossenen Meinungsbildungsprozess abbilden würden. Die betreffenden Organe sind die Departemente in den Städten, vertreten durch Stadtrat Raphael Golta für Zürich, Gemeinderätin Franziska Teuscher für Bern und Regierungsrat Kaspar Sutter für den Kanton Basel-Stadt. Das birgt politischen Sprengstoff.
Erhalten haben wir aber die umfangreichen Ausschreibungsunterlagen der Beschaffung von 2018. Rund 100 Dokumente, die die Grösse des Unterfangens erahnen lassen. Allein die Übersicht über die Anforderungen des Kernsystems ist 150 Seiten lang. Im Masterdokument ist die Rede vom "ausgesprochen innovativen Charakter" des Projekts. Dieses hat hauptsächlich Emineo zu stemmen.
IT-Dienstleister Emineo sucht fast 40 IT-Fachleute
Als Emineo 2018 den Zuschlag für das Projekt erhielt, setzte die Firma noch rund 20 Millionen Franken um und beschäftigte gut 80 Mitarbeitende. Im Jahr darauf baute sie auf 124 Mitarbeitende aus. Das klingt nach Klumpenrisiko. Auf Anfrage schreibt Patrick Meister, Kommunikations-Chef der IT-Firma, es handle sich um eines der grössten Projekte, man publiziere aber keine detaillierten Zahlen dazu.
Sein Unternehmen wurde kürzlich von der deutschen Conet Gruppe übernommen. Wollte man sich damit zusätzlich Know-how und Ressourcen ins Haus holen? Das habe nichts mit dem Projekt zu tun, sondern sei Teil einer langfristigen Planung des Verwaltungsrats, sagt Meister. Die Ressourcen für Citysoftnet blieben im Schweizer Haus angesiedelt. Dieses beschäftigt heute 160 Mitarbeitende, die fast 38 Millionen Franken an Umsatz einbringen. Derzeit hat Emineo auf seiner Website fast 40 Stellen ausgeschrieben – eine hohe Zahl angesichts des Mangels an IT-Fachkräften in der Schweiz.
Emineo-CEO Aleardo Chiabotti und Anke Höfer, CEO der Conet-Gruppe, anlässlich der Übernahme.
Zugleich sagt Meister zum 10-Jahres-Plan von der Evaluation bis zum Go-live von Citysoftnet: "In dieser Zeit haben sich sowohl die Technologien als auch die Anforderungen der Stakeholder geändert. Wir setzen heute viele Funktionalitäten um, die im Rahmen der Ausschreibung noch nicht abschliessend bekannt waren." Man werde aber im 1. Quartal 2023 mit einer Applikation live gehen, beteuert Meister, angesprochen auf die Verzögerung.
Punktlandung bei Grossprojekten "praktisch ausgeschlossen"
Bei Citysoftnet sieht man im Zusammenschluss von Emineo mit Conet durchaus auch Vorteile. Thomas Alder, der Geschäftsführer des Vereins, sagt zu inside-it.ch, dass sich Emineo an der unteren Grenze der kritischen Grösse befunden habe und mit der deutschen Gruppe im Rücken mehr Ressourcen zur Verfügung habe.
Bei so komplexen Projekten über einen Zeithorizont von 10 Jahren sei eine Punktlandung praktisch ausgeschlossen, sagt auch Alder. Die Städte Bern und Zürich sowie der Kanton Basel-Stadt hätten eine gestaffelte Einführung ab Anfang 2023 bis 2024 geplant. "Wir setzen unseren Fokus auf ein reifes Produkt, die Verzögerung liegt im Rahmen des Vorhersehbaren", versichert der langjährige Unternehmensberater und ergänzt: "Ende Dezember 2022 soll ein weiterer Meilenstein mehr Klarheit über den genauen Go-live-Termin in Bern geben. Erst dann kann die Budgetsituation für Bern abschliessend beurteilt werden."
Kostenüberschreitungen drohen in Bern und Basel-Stadt
Aus den drei Städten heisst es auf Anfrage unisono, die Komplexität des Projekts sei zuerst unterschätzt worden. Bei der Offertenstellung habe man den Aufwand für die Detailspezifikation und Realisierung der komplexen Gesamtlösung noch nicht vollständig abschätzen können, schreibt das Sozialdepartement der Stadt Zürich exemplarisch. Zudem sei erhöhter Koordinationsaufwand angefallen, was durch Corona nochmals erschwert worden sei. "Aufgrund der Verzögerungen im Projektverlauf wurde im Sommer 2021 die Fokus-Strategie mit der gestaffelten Entwicklung der Betriebsreife für die jeweiligen Städte festgelegt", hält man in Zürich fest. Die aktuelle Roadmap beurteilt man in den drei Städten derzeit als realistisch.
Das Budget, das der Stadtrat im Oktober 2018 freigegeben habe, genüge voraussichtlich, eine Krediterhöhung sei nicht vorgesehen, versichert man im Sozialdepartement der Stadt Zürich. Anders sieht es in Bern und Basel-Stadt aus. Das Budget reiche voraussichtlich nicht aus, schreibt die Sozialdirektion der Schweizer Hauptstadt auf Anfrage. "Die Komplexität des Projektes und die damit verbundenen Verzögerungen führen zu Mehrkosten, die Nachkredite zum Investitionskredit und zum Verpflichtungskredit nötig machen." Genauer ist man in Basel-Stadt, wo das Budget inklusive interner Kosten bei rund 24 Millionen Franken liegt. "Aufgrund der Verzögerungen wird es gemäss heutigem Wissensstand zu einer Budgetüberschreitung von rund 10% kommen", heisst es aus dem Sozialdepartement freimütig, das wären 2,4 Millionen Franken.
Wie es um das gesamte 36-Millionen-Projekt steht, dürfte sich im nächsten Jahr andeuten, wenn der Startschuss in Bern gefallen ist.