Atos kann den bereits verschobenen Termin des Polycom-Migrationsprojekts per Anfang Juli abermals nicht einhalten. Das ist einer Mitteilung des zuständigen Bundesamts für Bevölkerungsschutz (Babs) zu entnehmen. In dem
im April von Atos erbetenen Zusatzzeitraum sollten eigentlich noch "Pendenzen und Mängel behoben" und "fehlende Funktionalitäten" ergänzt werden. Doch jetzt teilt das Babs mit, dass man "trotz Projektfortschritten" noch keine Freigabe für die Migration der bestehenden Infrastrukturen des Sicherheitsfunksystems Polycom auf eine neue Generation erteilen könne.
Obwohl verschiedene offene Punkte bearbeitet worden sind, seien die Voraussetzungen für eine Migration "bislang noch immer nicht erreicht", so das Babs. Atos wolle die fehlenden Abnahmekriterien nun bis im Herbst erreichen und die "Freigabe für den Mass-Rollout durch den Steuerungsausschuss soll spätestens Mitte Oktober 2022 erfolgen".
Weiter heisst es, diese abermalige Verzögerung habe laut Angaben von Atos "keine zusätzlichen Mehrkosten zur Folge und soll keinen Einfluss auf den geplanten Projektabschluss haben".
Das Monopol-Dilemma
Hinter der eher unscheinbar daherkommenden Meldung des Babs steht das Projekt "Werterhalt Polycom 2030". Demnach soll das bestehende Milliarden-schwere Sicherheitsfunknetz für die Blaulichtorganisationen so lange betrieben werden, bis ein Ersatz dafür vorhanden ist. Doch nur schon dieser Werterhalt präsentiert sich seit mehreren Jahren als ein Weg voller Pannen. Dabei basiert das mindestens
3,5 Milliarden Franken teure Projekt Polycom auf einer proprietären Technologie, die "komplett in der Hand von Atos und der Rüstungsschmiede EADS" liegt.
Zusätzlich zu den Milliarden-Investitionen, die seit Projektstart 2002 geflossen sind, wurden seit 2016 noch einmal 500 Millionen Franken für "die geplanten Gesamtkosten für den Betrieb und den Werterhalt von Polycom bis 2030 auf Ebene Bund" fällig. Hinzu kommen die Gelder der Kantone, die laut einem Bericht zur Änderung der Alarmierungsverordnung von Mitte 2016 für die "Nachrüstung der Polycom-Infrastruktur" rund 150 Millionen Franken aufzubringen hätten.
Es ist anzunehmen, dass sich die vor nunmehr fast 6 Jahren genannten Kosten inzwischen sicher nicht reduziert haben. Ohnehin sind die Polycom-Gesamtkosten nur schwer zu evaluieren, zumal der Bund keine Kostenkontrolle bei den Kantonen ausübt.
Aber abgesehen von den Kosten zeigte sich vor wenigen Monaten, welches Risiko hier ausserdem schlummert. Denn
im Februar gab der französische IT-Dienstleister Atos einen Milliarden-Abschreiber bekannt. Unter anderem hatte der Konzern im vergangenen Jahr die Hälfte seines Marktwerts wegen Bilanzierungsfehlern und wegen des gescheiterten Übernahmeversuchs von DXC eingebüsst. Zuletzt hatte dann ein neuer CEO einen Tunaround-Plan ankündigt. Damals hiess es, die Führung sei zu komplex, was die Entscheidungsfindung bei Atos behindere.
In Sachen Polycom-Werterhalt hatte der eng mit der französischen Rüstungsindustrie verbundene Konzern
schon im Februar 2021 für Schlagzeilen gesorgt. Atos habe bei den Erneuerungsarbeiten die Cybersecurity unterschätzt, hiess es da. Obwohl seit 2011 mit Polycom-Technologien betraut, habe bei dem Konzern insbesondere fundiertes und spezifisches Fachwissen in Sachen Security der Netzzonen gefehlt, hiess es damals schon beim Babs: "Dieses Wissen aufzubauen hat sich aufseiten des Systemintegrators Atos Schweiz AG als komplexer und schwieriger als ursprünglich angenommen herausgestellt."
Ein Jahr später kam dann zu der Verzögerung wegen fehlendem Fachwissen zusätzliche
scharfe Kritik der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK). Sie reklamierte zuletzt im Februar 2022 überdeutlich, dass seit Projektbeginn geschätzte 500 Software-Fehler und 25 Change Requests aufgetaucht seien. Die Abnahmen der Lieferobjekte von Atos seien aufgrund von Qualitäts- und Sicherheitsmängeln mehrfach gescheitert, schrieb die EFK. Zudem seien schon in der Konzeption Themen wie ein möglicher nationaler Netzzerfall und der damit einhergehende Verlust der Kantonsautonomie übersehen worden. Und zu guter Letzt bereite die Umsetzung des IKT-Grundschutzes grosse Probleme, weil von Lieferantenseite versprochene personelle Ressourcen oder Liefertermine nicht eingehalten worden sind.
Die Kontrollinstanz sprach in ihrem Bericht denn auch von einer besorgniserregenden Projektsituation, der Handlungsspielraum für beschleunigende Massnahmen sei beinahe ausgeschöpft. Laut EFK ist das Projekt von 4 Hauptrisiken bedroht: Ein Ausstieg von Atos, eine mögliche technische Unlösbarkeit, ein Rückzug der Kantone oder eine Arbeitsüberlastung beim Babs.
Risiken keineswegs gebannt
Zum aktuellen Stand wird beim Babs darauf verwiesen, dass derzeit 42 Basisstationen in den Kantonen Aargau, Bern und Uri migriert wurden und in Betrieb sind. Die hier gemachten Erfahrungen haben Fehler aufgedeckt, was die Rahmenbedingungen für den Mass-Rollout ständig verbessere. Allenfalls können weitere Kantone in den Pilotbetrieb aufgenommen werden. Polycom umfasst übrigens rund 750 Funkmasten, das Pilotprojekt umfasst also etwas mehr als 5% der gesamten Infrastruktur.
Im Weiteren zitiert das Babs dann seinen Lieferanten Atos mit den Worten, dass diese weitere Verzögerung "keinen Einfluss auf den geplanten Projektabschluss haben" soll. Abfinden will man sich beim Bund mit dieser Aussage allerdings nicht. Was angesichts der gegenwärtigen Situation sowohl beim Konzern Atos selbst wie bei den noch immer ausstehenden Fortschritten im Projekt Werterhalt Polycom kein Wunder ist. So bleibt dem Babs denn auch nichts anderes übrig als zu schreiben: "Aufgrund der bereits bestehenden Verzögerungen im Projekt bleibt aber das Risiko eines über 2025 hinausgehenden Parallelbetriebs der alten und neuen Komponenten, welcher zu Mehrkosten führen würde, unverändert hoch".