"Viele Hoffnungen haben sich in Luft aufgelöst", sagt ein Informatik-Dozent. Die Leiterin eines Hochschul-Blockchain-Centers sieht die Lage optimistischer. Wie sie zu ihren Schlüssen kommen.
Die Gesprächspartner im ersten Teil des Blockchain-Reports, Informatiker Kai Brünnler und der auf Distributed Ledger Technology (DLT) (Glossar) spezialisierte Wirtschaftswissenschaftler Fabian Schär, kommen trotz ihrer Arbeit in unterschiedlichen Disziplinen zu ähnlichen Schlüssen: Blockchain hat zwar ein Potenzial, allerdings nur in einer Nische. Vieles, was heute unter dem Begriff verkauft wird, geht auf die PR-Abteilungen zurück, steht technologisch in langer Tradition. Doch wie sieht es mit den praktischen Erfahrungen von Forschenden mit Blockchain-Projekten aus?
Matthias Stürmer
"Ich war am Anfang begeistert"
Sehr skeptisch zeigt sich diesbezüglich Matthias Stürmer, Dozent für Digitale Transformation und Leiter des Instituts Public Sector Transformation an der Berner Fachhochschule (BFH). "Ich war am Anfang begeistert von der Idee. Ich habe mich früh mit der Blockchain-Technologie befasst und versucht, sie voranzutreiben", sagt Stürmer. Mit einem Team hat er zwei Machbarkeitsstudien durchgeführt: Zum einen sollte das Potenzial der Blockchain in der Landwirtschaft mit Agrardaten ausgelotet werden. Zum anderen untersuchten sie eine Anwendung für das Bildungswesen. "Das Fazit war ernüchternd, viele Versprechungen und Hoffnungen haben sich in Luft aufgelöst", erklärt er.
"Die Idee ist längst nicht tot, aber man hat den Anspruch schon redimensioniert", sagt derweil Petra Maria Asprion. Die Informatikerin und Wirtschaftswissenschaftlerin leitet das Blockchain Competence Center an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Ein guter Indikator sei Horizon Europe, das weltweit grösste Forschungs- und Innovationsförderprogramm der EU, sagt die Informatik-Professorin. Dort seien Blockchain-Innovationsprojekte mittlerweile eher eine Randerscheinung. Wer heute Geld in die Hand nehme – vor allem seitens der Firmen – wolle eine nützliche Anwendung. Ihr Zentrum erhalte zwar viele Projekt-Anfragen von Unternehmen, diese würden aber nach einem ersten Szenario-Entwurf meist noch abwarten.
Es werde sich erst noch zeigen müssen, ob sich der Blockchain-Ansatz breit durchsetze oder ob eine kleinteilige Anwendungslandschaft entstehe. "Wir müssen noch mindestens fünf Jahre warten, um zu sehen, ob es wirklich grosse Veränderungen gibt, oder ob Aspekte der Blockchain einfach als Hintergrundtechnologie in Applikationen von grossen Anbietern wie Apple oder Google implementiert wird", so Asprion. Wäre zweiteres der Fall, würden bestimmte Charakteristika zwar angewandt, aber das öffentliche Interesse würde noch stärker nachlassen.
Blockchain oder Distributed Ledger Technology?
Umfragen in der Wirtschaft zeigten, dass die "Blockchain" zwar als spannender Ansatz erkannt werde, aber noch nicht im Fokus des Interesses stehe, so Asprion. In ihrem Competence Center Blockchain werden Industrieprojekte, vor allem im Bereich Supply Chain, Logistik und Industrie 4.0 durchgeführt. Im Bereich Tracking habe die Technologie ein grosses Potential, ist Asprion überzeugt.
Petra Maria Asprion
Das sehen einige grosse Firmen und Startups gleich, wie ein Blick auf die Blockchain-Landschaft zeigt. Allerdings muss die Frage gestellt werden, inwiefern die Projekte etwa von AWS, Deloitte oder IBM als permissioned oder private Blockchains (Glossar) überhaupt etwas Neues oder in PR-Sprache etwas "Disruptives" darstellen. Das heisst nicht, dass es keine Fortschritte in diesen Systemen gibt, aber genügen sie dem Anspruch der umwälzenden Innovation, wie das Blockchain-Enthusiasten behaupten? Stellen sie nicht viel mehr eine Kontinuität der Forschungen seit den 1980ern dar, die werbewirksam neu verpackt wurde?
Die beiden Wissenschaftler, die im ersten Teil dieser Serie zu Wort kamen, sind sich diesbezüglich einig: Die geschlossenen und beschränkten Systeme genügen dem Versprechen nicht, das mit der Blockchain-Technologie verbunden wird, beziehungsweise auf die Innovation des Bitcoin-Whitepapers von 2008 zurückgeht. Auch eine wissenschaftliche Publikation von Asprion zum Thema trägt den Titel: "Towards a Distributed Ledger System for Supply Chains" (PDF). Im Gespräch räumt sie ein: "In der Wissenschaft muss man mit genauen Definitionen arbeiten, in der Öffentlichkeit und bei Firmen ist aber der Begriff 'Blockchain' geläufig, wenn auch oftmals eher als diffuse Vorstellung". Dies sei der Grund, warum man den Begriff im Namen führe, wenngleich man sich im wissenschaftlichen Kontext dedizierter aufstelle.
Anfangs habe sie sich sehr für Lösungen ohne Intermediär, ohne zentrale Instanz, interessiert. Diese seien in der Businesswelt aber nur begrenzt integrierbar, sagt Asprion. Wenn man über die Prototypen hinaus gehe, müsse man sich insbesondere auch mit der Governance beschäftigen. Dazu kämen regulatorische Anforderungen, die ein gewisses Mass an Kontrolle voraussetzen würden, also auch Instanzen, die diese ausüben können. Aufschlussreich sind diesbezüglich zwei Projekte, die am Blockchain Competence Center an der FHNW durchgeführt werden.
Das Luft- und Raumfahrt-Projekt
Die Forschungsgruppe von Asprion arbeitet derzeit mit Partnern aus der Luft- und Raumfahrtindustrie an einer Zertifikatsverwaltung, die auf einer Distributed Ledger Technology beruht. Das Projekt DCCTS wird von der European Space Agency (ESA) unterstützt. Dank DLT sollen globale Rückverfolgbarkeit, Verfügbarkeit und Vollständigkeit von Informationen in Zertifikaten garantiert werden. Insbesondere für kleine Zulieferer soll damit der hohe Aufwand für die Zertifikatsverwaltung gesenkt werden.
Noch im März 2022 werde das System an den Start gehen und an die Umsetzungsfirmen übergeben, sagt Projektleiter Pascal Moriggl. DCCTS baue auf den beiden Open-Source-Projekten Hyperledger Fabric und Interplanetary Filesystem (IPFS) auf, ersteres ist eine DLT-Plattform für Enterprise-Anwendungen, die verschiedene Konsens-Mechanismen (Glossar) zulässt. Im Falle von DCCTS wird unter den Konsortiums-Mitgliedern eine "Abstimmung", ein Konsens durchgeführt. Insgesamt ist das dezentrale System für das DCCTS geschlossen beziehungsweise der Zugang auf alle Funktionen beschränkt auf Netzknotenbetreiber.
Pascal Moriggl
Moriggl bezeichnet dies als "Blockchain"-basierte Lösung. Er erklärt, dass es in Blockchains verschiedene Konfigurationen gebe: "Gemeinsam haben alle, dass es eine laufende Verkettung von gehashten Transaktionen in Blocks gibt, und mittels Konsensus Verfahren die Kette erweitert wird". Dieses Verfahren gibt es aber schon deutlich länger, als das Whitepaper zu Bitcoin oder das Label "Blockchain". Als Urväter der Verkettung gelten Stuart Haber und W. Scott Stornetta, die in den frühen 1990ern eine Software entwickelten, die digitale Dokumente mit einem Zeitstempel versah und eine unveränderliche chronologische Reihenfolge von Blocks festlegte.
Die weite Blockchain-Definition für das DCCTS sagt über Erfolg und Nutzen des Projekts wenig aus, aber einiges darüber, welche Attraktivität der Begriff "Blockchain" auch für solche Projekte mitbringt. Moriggl räumt dann auch ein, dass das DCCTS ein hybrides System sei: dezentral aufgebaut, aber von einem Konsortium verwaltet. Zudem müssen für die Applikationen mit Frontend die Schlüsselpaare verschlüsselt hinterlegt werden, die wiederum verwaltet werden wollen. Dies sei ein Kompromiss zwischen Systemoffenheit und höherer Anwenderfreundlichkeit, so der Projektleiter. Das System ist also dezentral, aber umfasst privilegierte Teilnehmer und mit der Schlüsselverwaltung auch einen zentralisierten Bereich.
Die Whistleblower-Plattform
Das Blockchain Competence Center baut auch eine blockchainbasierte Plattform, auf der "Whistleblower" ihre Hinweise teilen können. Es handelt sich dabei um ein System für eine interne Meldestelle bei Firmen, dank welchem Informanten geschützt Meldung erstatten können. Eine solche Stelle ist in der EU für Firmen mit mehr als 50 Angestellte verpflichtend. Das Projekt sei zwar auch auf die Schweiz ausgelegt, man wolle aber den EU-Regulatorien entsprechen und habe das System deshalb "privat-dezentral" angelegt, sagt Projektleiter Hermann Grieder.
Hermann Grieder
Der erste Prototyp beruht auf Hyperledger Fabric. Die Betreiber der Nodes sind bekannt, während die Benutzer beziehungsweise die Meldenden anonym auf das System zugreifen können. Im Projekt geht es vor allem um Compliance-Aspekte, wie Grieder erklärt, darum, dass die Firmen nachweisen können, Meldungen registriert zu haben. Auch der Projektleiter der Whistleblower-Plattform nennt eine sehr ähnliche Definition von "Blockchain" wie sein Kollege Moriggl.
Mit der engeren Definition, wie sie in diesem Report gebraucht wird, ist diese nur verwandt. Für die Unterscheidung von Hype und Potential ist der enge Begriff zielführend, weil er das neue, innovative fasst, das mit dem Durchbruch des Bitcoins in die Welt kam. Mittlerweile scheinen die Projektet, will man es positiv formulieren, von Kinderkrankheiten geheilt und zu einem erwachsenen Geschäft geworden zu sein. Will man es aus Sicht der einstigen Crypto-Jünger sagen: Das utopische Versprechen der reinen Dezentralität und Gleichheit hat sich weitgehend in Luft aufgelöst. Dies bestätigen auch Prüfungen von weiteren Projekten in den nächsten Teilen dieses Reports.
Dies ist der zweite Teil einer sechsteiligen Artikelserie.
Teil 5Das Crypto Valley in der Pandemie Wo steht der Blockchain-Standort Schweiz in Pandemie und zweitem Krypto-Winter? Wir haben uns in Zug umgesehen und mit Beteiligten gesprochen.