Das Metaverse in Oerlikon: Der Anfang... von was?

22. Mai 2023 um 08:00
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So stellt sich Midjourney ein Treffen im Metaverse vor.

An einer Konferenz in Zürich ergründen Topshots und Analysten die Untiefen des Metaverse. Ein Besuch zeigt: Es dominieren Konfusion und Zuversicht.

Unter dem Glasdach im sechs Stockwerke hohen Atrium sieht der Empfangsdesk winzig aus: "Metaverse Leaders Summit" steht darauf. Der Mann hinter dem Tisch fragt schon bei der Ankunft nach Meinungen zur virtuellen Welt. "Sie ist grossartig", sagt er gleich selbst. "Wir könnten uns hier treffen und in die Augen schauen, obwohl wir zu Hause sind." Auf seinem Namensschild steht etwas mit "AI" und "Consultant". Noch begrüsst er die Besucher im PwC-Hauptquartier hinter dem Bahnhof Oerlikon in Fleisch und Blut.
Die Sitzungszimmer beim Beratungsriesen tragen Namen berühmter Schriftsteller. Gegenüber von "Erich Kästner" und "Robert Musil" liegt der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Saal. Hier zeigt Martha Boeckenfeld von der "Meta Academy" eine Folie zu Bored Apes. Das sind die Bilder von gelangweilten Cartoon-Affen, die ab Frühling 2021 als Non-Fungible Token (NFT) verkauft worden sind. Sie brachten den Urhebern gigantische Gewinne ein, nachdem Justin Bieber, Paris Hilton und andere Promis ihre Käufe öffentlich zelebriert hatten.

Mit einem Dichter im Metaverse

Später spricht im Goethe-Saal der Sygnum-Marketing-Chef über den Metaverse-Start seines Instituts. Auch Helvetia-CMO Markus Bucheli schildert hier das Projekt der Versicherung. Ein Kunde pro Tag nutze das Metaverse-Angebot, sagt der Marketing-Leiter von Helvetia. Weiter hinten im Friedrich-Dürrenmatt-Saal tritt derweil Metaverse-Strategist "Ondrej T." auf. Er ist Mitglied des Bored Ape Yacht Clubs und hat in Genf das Boring Lab gegründet, um traditionellen Marken den Einstieg ins Web3 zu erleichtern – und dabei etwas vom Bored-Ape-Glanz abzugreifen.
In Oerlikon werden viele Animationen gezeigt und es wird oft in Superlativen gesprochen. Auch nach mehreren Vorträgen und Gesprächen über NFT, Blockchain, Künstliche Intelligenz und Web3 klingt aber Goethes Faust im Ohr: "Da steh' ich nun, ich armer Tor, Und bin so klug als wie zuvor!" Oder in den Worten des "AI-Consultants" am Empfangsdesk: "Wir stehen erst am Anfang." Das ist vermutlich die einzige Einschätzung, die die Besucher des Metaverse Leaders Summit teilen.
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Midjourneys Metaverse 2
Auf dem Podium zu Web3 gibt es Probleme mit dem Internet, die vier Remote-Teilnehmenden hören den Moderator nicht. Anna Tutova, Angel-Investorin, Influencerin und CEO der "Crypto-Media-Group" Coinstelgram, bleibt darum stumm. Ihre Rollen zeigen den Stand der Verwirrung. In der Diskussion um das Metaverse geht derzeit vieles durcheinander: Was sind überhaupt die Kriterien, um eine virtuelle oder halbvirtuelle Realität "Metaverse" nennen zu können? Grösse? Dezentralität? Technische Aspekte? Blockchain? Und was haben Boring Labs oder die Crypto-Media-Group mit Projekten von Versicherungen und Mischkonzernen zu tun?

Die Industrie im virtuellen Universum

Wir treffen am Rand der Veranstaltung Christopher-Alexander Unkauf, der seit letztem Oktober Siemens Digital Industries Software in der Schweiz leitet. Das Unternehmen hat jüngst von 'MIT Technology Review' einen Report verfassen lassen. Die Zahlen klingen bombastisch: 2030 soll das "Industrial Metaverse" ein Marktvolumen von 100 Milliarden Dollar erreichen, während es im Konsumentensegment auf 50 Milliarden hochschnellt.
Aber was genau soll das sein – ein Industrial Metaverse? "Für uns entsteht das Metaverse aus der Kombination von verschiedenen Technologien wie Virtual Reality, Edge Computing, digitalen Zwillingen und künstlicher Intelligenz", sagt Unkauf. Wichtig sei, dass man dadurch mit den schon länger bekannten Technologien ein völlig neues Erlebnis in fotorealistischen Simulationen erzielen könne. Das helfe den Kunden auch in der Produktion
"Wir erleben gerade, wie Use Cases entstehen", sagt Unkauf, aber man stehe noch am Anfang. Bloss: am Anfang wovon? Das Metaverse von Siemens hat mit den Vorstellungen von Bored Labs oder vom Meta-Konzern wenig gemein. Das Label trägt aber durch eine Baisse, die vom Lärm um KI-Anwendungen wie GPT-4 verursacht wurde. Es waren keine guten News, dass Disney kürzlich seine Metaverse-Abteilung geschlossen hat und Microsoft ein Team für die Nutzung des Metaverse in industriellen Umgebungen aufgelöst hat. Mancher hatte gar den jüngsten Tod der Vision ausgerufen. Kann ein Analyst Klarheit verschaffen?

"Der Hype ist gut und schlecht"

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Midjourneys Metaverse 3
Mit Markus Lodenstraeter von Gartner sitzt jedenfalls ein Marktforscher auf einem Podium des Summits in Oerlikon. Er sagt recht unbeirrt von den Entscheiden von Disney und Microsoft: "Das Metaverse ist ein Hype. Das ist gut und schlecht." Wenn man auf einer Welle reite, brauche man einen langen Atem. Der Analyst erlebte schon die anfängliche Begeisterung für Second Life, der virtuellen Welt, die 2003 startete und nach einem ersten Hype abstürzte. Es habe sich nun aber etwas geändert, sagt Lodenstraeter: Es gebe einige Use Cases, bloss brauche alles seine Zeit.
Auch Gartner fasst wie Siemens einige Trends zu Metaverse-Treibern zusammen: virtuelle Realität und erweiterte Realität, flexible Arbeitsstile, am Kopf befestigte Displays, das Internet der Dinge, 5G, Künstliche Intelligenz und räumliches Computing. Aber wie ist der Stand der Dinge? Für das Metaverse rechneten die Analysten im letzten August noch mit über 10 Jahren, bis es breit akzeptiert und ausgerollt wird.
Offiziell ist Gartner darum noch vorsichtig: Man solle aufpassen, in welches "Metaverse" man investieren wolle, da man noch – man ahnt es bereits – am Anfang stehe. Generell zeigten sich die Analysten aber beeindruckt und sahen ein gigantisches Potenzial. Ob es sich aber schliesslich als Second Life 2.0 entpuppt oder – wie es von Verfechtern gerne umschrieben wird – als nächste Revolution nach dem Internet, wird sich erst noch herausstellen müssen. Eines kann man aus Oerlikon aber mitnehmen: Derzeit herrschen Konfusion und Zuversicht zugleich.

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